Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 6. März 2014

Diagnose – Rüdiger Bertram


„Die Medizin ist heute schon viel weiter als vor zehn Jahren. Du musst dir da wirklich keine Sorgen machen.“
Die Stimme des Weißkittels prallt an mir ab, als würde ich immer noch diese Bleiweste tragen. Die von heute Morgen beim Röntgen und es wäre echt toll, wenn man so ein Ding als Ganzkörperanzug im Kaufhaus kaufen könnte. Dann liefe man so panzermäßig durchs Leben und keiner käme mehr an einen ran. Würde ich mir sofort kaufen. 
Das Röntgen übrigens hat überhaupt nichts gebracht, mal abgesehen von dem verlogenen Satz: „Mit deiner Lunge ist alles in Ordnung.“ Und was ist mit dem Rest? Das sagen sie einem natürlich nicht. Immer schön positiv denken. Während der Doc weiter rumsalbadert und mir dabei irgendwelche Zahlen auf seinem Bildschirm zeigt, rufe ich in meinem Kopf das Wörterbuch Weißkittel-Deutsch auf. „Kein Grund zur Sorge“ heißt übersetzt so viel wie: „Für dich lohnt es sich nicht mehr, einen Flatrate-Vertrag abzuschließen.“ Aber das wusste ich ja vorher schon. 
Auf dem Monitor suche ich die einzige Zahl, die mich wirklich interessiert: Wie lange noch? Aber die finde ich nicht, weil die bestimmt irgendwo anders hinterlegt ist. Irgendwo, wo ich sie nicht sehen kann, nicht sehen soll. Mit etwas Glück sind es noch zwei Monate, höchstens drei, vielleicht nur einer. 
Und jetzt?
Die Herrndorf-Ausfahrt kommt für mich nicht in Frage. Wer verkauft einem Fünfzehnjährigen schon eine Knarre? Ich kriege am Kiosk ja nicht mal eine Flasche Schnaps. Zug ist auch blöd, weil ein Onkel von mir Lokführer ist. Brücke? Gibt’s keine bei uns in der Gegend, die hoch genug wäre. Dasselbe gilt für Hochhäuser. Pillen wären eine Möglichkeit. Aber welche? Ich war nie gut in Chemie und das nachzuholen, fehlt mir die Zeit. Ich könnte nach Brüssel rübermachen und dort einen finalen Cocktail schlürfen. Zuviel Papierkram und am Ende reicht mir doch keiner den Strohhalm, weil ich kein Belgier bin. 
Also bleibt mir nur, es bis zuletzt auszusitzen. So wie vorhin, als ich drei Stunden im Wartezimmer gehockt habe. Wenn man höchstens noch 2160 Stunden zu leben hat, sind drei Stunden eine halbe Ewigkeit. Als ich da im Wartezimmer saß und durch die Zeitungen geblättert habe – natürlich mit Handschuhen wegen der ganzen Viren, ich bin ja nicht lebensmüde – also, als ich da saß, da habe ich mir kurz vorgestellt, wie es wäre, wenn ich im Schlussspurt meines Lebens einen fiesen Diktator ermorde und der Menschheit damit noch einen letzten Dienst erweise. War aber eine Schnapsidee. Ich krieg es ja nicht mal hin, mich selbst umzubringen, und wer garantiert mir überhaupt, dass die Leibgarde von dem Typen mir nicht noch eine Sonderbehandlung verpasst, bevor sie mich erschießt? Klar, ich werde sowieso sterben, aber doch bitte ohne Schmerzen, wenn’s geht.
Das einzig gute an der ganzen Sache ist: Ich muss mir den Kopf nicht mehr darüber zerbrechen, was mal aus mir werden soll. Da haben Mama und Papa ganz umsonst genervt mit ihrem: Was willst du denn später mal machen? Eine Ausbildung oder lieber studieren? Na, bei deinen Noten wohl eher was Praktisches, oder? Blablablabla.
Mich muss überhaupt nichts mehr interessieren und ich muss auch nichts mehr machen. Außer auf mein baldiges Ende warten und dafür brauche ich weder eine Ausbildung noch ein Studium. Im aufs-Ende-Warten bin ich ein echtes Naturtalent. Die besten sterben jung, sagt man doch so, oder? Ein Scheißspruch, wenn ihr mich fragt. Und der Tod ist auch kein mieser Verräter. Er ist ein verficktes Arschloch, dem ich mit meiner Faust am liebsten wieder und wieder in seine verfickte Fresse bis …
Plötzlich werde ich rot, weil mir einfällt, dass ich wahrscheinlich niemals mit einem Mädchen schlafen werde. Scheiße! Die spüren das doch, wenn man verzweifelt darauf aus ist und lassen einen dann gar nicht mehr ran. Höchstens aus Mitleid. Aber hey, ich habe auch meinen Stolz. Noch. Fragt mich in drei Wochen wieder. Falls ich dann noch da bin.
Der Weißkittel macht jetzt den Rechner aus, steht auf und reicht mir seine Hand. Die Vorstellung ist vorbei, soll das wohl heißen. 
„Ich sagte ja schon, mach dir keine Sorgen, das ist nur eine harmlose Erkältung“, lügt mir der Weißkittel schamlos ins Gesicht. Vor Ärzten hat mich mein Opa schon gewarnt. Der ist jetzt auch schon lange tot.
Das Sterben liegt bei uns einfach in der Familie.

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