Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 1. Mai 2014

Lücke – Antje Herden


In der Nacht hatte es geschneit. Das war super. Wir warteten alle sehnsüchtig die Pause. „Lasst uns Schiffe versenken spielen!“, rief Janik. „Prima!", freute ich mich. "Wie geht das?“ „Na, das ist doch klar. Wir laufen über den ganzen Schulhof und versuchen uns abwechselnd mit Schneebällen abzuwerfen.“ „Superklasse. Wer getroffen ist, geht unter“, rief Michael. Wir haben gelacht und gedacht, das ist ein tolles Spiel.

Der Direktor hatte ein ganz rotes Gesicht. Mama saß irgendwie zusammengesunken auf dem Stuhl. Ich auch. Meine Lehrerin war die vierte im Büro. Die sagte aber nichts, sondern nickte immer nur mit dem Kopf. Wenn der Direktor etwas sagte. Oder Mama und mich anschrie. „Das fällt unter den Tatsbestand der Körperverletzung. Ist Ihnen das überhaupt klar!“ Erst wunderte ich mich noch, von was der Direktor da überhaupt sprach. Dann verstand ich. Man durfte keine Schneebälle werfen. Mama saß nun ganz gerade. Ihre Augen funkelten.

Zuhause umarmt mich Mama ganz fest. Dann verschwinde ich in meinem Zimmer. An der Wand über dem Schreibtisch hängt unser Klassenbild. Das hatte ein Fotograf im letzten Monat gemacht. Auf dem Bild stehe ich zwischen Janek und Michael. Klar, wo sonst. Dass es die beiden gibt, ist super. Und manchmal der einzige Grund, morgens in diesen grauen Kasten zu gehen. Ich setze mich an den Schreibtisch und nehme das Foto von der Wand. Mit der Zirkelspitze beginne ich zu kratzen.

„Frau Lehrerin, das war der Nick.“ Oh, Mann! Moritz verpetzte uns immer. Immer. Außerdem war er ein Angeber. Mit allem gab er an. Vor allem mit dem Geld seines Vaters. Und mit seinen guten Noten. Keiner mochte ihn. Nur die Frau Lehrerin. Wegen der guten Noten. „Heute gibt es Rache“, raunte Michael. „Genau“, flüsterte Janik. Wir bekamen eine Strafarbeit wegen Flüstern. Aber das war egal. In der Pause zogen wir Moritz, schwupps, die Mütze vom Kopf. Der regte sich mächtig auf. Das war schon mal toll. Dann warfen wir die Mütze hin und her. Moritz immer hinterher. Er kam richtig aus der Puste. Da half ihm auch der schnelle Schlitten seines Vaters nichts. Die Mädchen lachten. Gerade als ich die Mütze hatte, sprang mir Moritz an die Gurgel. „Superklasse, Klopperei!“, riefen die Jungs. Michael streckte den Daumen hoch. Er wusste, dass ich sowieso gewinnen würde. Kein Grund zur Sorge. Trotz Moritz´ Exklusivkaratestunden. Die anderen bildeten einen Kreis. Sie klatschten in die Hände und feuerten mich an. Auch die Mädchen.

Mama saß dann mit funkelnden Augen und sehr gerade auf dem Stuhl. Kleine Spuckeflocken flogen dem Direktor aus dem Mund. „Diebstahl! Diiiiebstaaaahl!!! Ist dir eigentlich klar, dass das eine schlimme Straftat ist?“, schrie er. Er sagte du, guckte aber Mama dabei an. Ich verstand gar nichts mehr. Mama begann zu zittern. Sie sagte aber nichts. Wir hatten vorher besprochen, dass wir uns nicht aufregen würden. Keinen weiteren Ärger. Wegen Janik und Michael.

Wo vorher die Haare gewesen waren, ist das Bild nun weiß. Die Schultern sind auch schon weg. Mehr vom Körper war sowieso nicht zu sehen gewesen. Denn wie immer hatten Janik, Michael und ich beim Fototermin in der letzten Reihe gestanden. Weil man da weiter weg war vom Ohr und vom Auge der Lehrerin. Es gab nämlich immer irgendetwas Wichtiges zu besprechen oder zu zeigen. Ich kratze weiter.

Rosa war ein bisschen dick. Aber in unserer Klasse sagte da keiner was drüber. Rosa war nämlich total nett und brachte oft Bonbons mit. Die teilte sie mit uns. Nur Moritz kriegte keins ab. Der tönte sowieso immer, er würde nur französische Bonbons essen. Aus Paris. Aber in der Dusche nach dem Schwimmen brachten die Parallelmädchen Rosa zum Weinen. Ich weiß gar nicht mehr, wer den Superplan hatte. Egal. Beim nächsten Schwimmunterricht schlich ich in die Mädchenumkleide der Parallelklasse. Die Jungs standen Schmiere. Ich nahm die Mäppchen aus den Ranzen und leerte alle Stifte auf dem Boden aus. Die würden ewig brauchen, das wieder zu sortieren, und hätten keine Zeit, irgendjemanden zu ärgern. „Superklasse!“, raunte Michael und Janik klopfte mir auf die Schulter. Moritz hat mich dann verraten.

Die Augen, den Mund und die Nase lasse ich am längsten stehen. Ganz vorsichtig ziehe ich die Zirkelspitze darum herum. Das sieht fast wie eine gruslige Maske aus. Obwohl. Masken haben gar keine Augen. Ich kratze weiter.

„Was machen wir nun?“, fragte Janik. „Wir haben doch mitgemacht“, meinte Michael bekümmert. „Keine Sorge“, sagte ich. „Das wird schon nicht so schlimm.“ Ich hatte die besten Noten von uns Drein. Michael war sogar auf Kippe.

„Drei kriminelle Vergehen. In so einem schweren Fall, darf ich das direkt bestimmen“, sagte der Direktor. Er klang auf einmal ganz ruhig und sehr zufrieden. „Schulverweis. Vielleicht hat ja eine andere Schule Interesse daran, sich mit einem wie dir abzugeben.“ Dann schlug er die Hände zusammen. Als hätte er eine Arbeit erledigt. Irgendwas mit Dreck. Mama starrte an die Wand. Dort hing ein Zertifikat: Gesundheitsfördernde Schule. Mit besonderer Anerkennung für Schulkultur und Schulklima. In einem dicken Goldrahmen. Daneben ein großes Foto vom Direktor. Mit einem breiten Grinsen. Auch in einem dicken Goldrahmen. „Sei froh, dass ich auf eine Anzeige verzichte“, zischte der Direktor, als er uns zur Tür hinausschob. Ich wusste gar nicht, ob er Mama oder mich anzischte. Die Lehrerin nickte.

Auf dem Klassenbild ist nun zwischen Janek und Michael eine weiße Lücke.

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