Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 15. Mai 2014

Paket – Rüdiger Bertram

Das Paket stand in dem Regal mit den Thrillern. Genau dort, wo dem Alphabet nach Stephen Kings Bücher hätten stehen sollen. Taten sie aber nicht. Sie waren ausgeliehen. Alle. Frau Müller-Liebelein hatte sich darüber geärgert, weil sie ihren Lieblingsautoren nur ungern in fremde Hände abgab. Jetzt stand sie vor dem Real und betrachtete das Paket, das wohl doch eher ein Päckchen war, eingeschlagen in blassrosa Geschenkpapier und beschriftet mit arabischen Schriftzeichen, die auf die Bibliothekarin ebenso verführerisch wie bedrohlich wirkten.
„Herr Rafka, kommen Sie doch mal bitte“, rief sie nach ihrem Mitarbeiter, der sie seit einiger Zeit bei ihrer Arbeit in der Bücherei unterstützte.
„Was ist denn, Frau Müller-Liebelein?“ Herr Rafka kam mit einem Staubtuch in der Hand aus der Ecke mit den Liebesgeschichten.
Die Bibliothekarin zeigte wortlos auf das Päckchen.
„Für mich?“, fragte Herr Rafka überrascht.
„Selbstverständlich nicht“, erwiderte Frau Müller-Liebelein schroff.
„Dann hat das wohl jemand vergessen. Warten Sie, ich schaue nach, was drinnen ist!“ Herr Rafka stopfte das Staubtuch in die Hosentasche und streckte seine Hand aus. Müller-Liebelein griff nach seinem Arm und hielt ihn fest.
„Sind sie verrückt!“, rief die Bibliothekarin.
„Wieso?“
„Wer weiß, was da drin ist! Am Ende fliegt uns die ganze Bücherei um die Ohren!“ Frau Müller-Liebeleins Sorge galt weniger dem Gebäude, sondern den Büchern, ihren Lieblingen, die sie nur mit großem Widerwillen verlieh. Und wenn, dann höchstens für vier Wochen. Verlängerungen gab es bei ihr nicht. Hatte es nie gegeben, würde es nie geben.
„Schauen Sie mal bei den Ratgebern nach, ob da was steht, das uns weiterhilft.“
„Bombenentschärfen für Dummies hat gestern der alte Herr Kasulke ausgeliehen. Sonst haben wir nichts zu dem Thema, das wüsste ich.“ Herr Rafka zog seine Hand zurück, weil ihm die Berührung seiner Chefin peinlich war.
„Schade, dass Sie die Röntgenbrille weggeschmissen haben“, bemerkte Herr Rafka. „Die könnten wir jetzt gut gebrauchen.“
Statt ihm zu antworten, brummte Frau Müller-Liebelein nur missmutig, weil sie sich nur ungern an die Sache mit der Röntgenbrille erinnerte. Die Bibliothekarin hatte sie eines Tages in einem Papierkorb der Bücherei gefunden. Mit dem Gimmick einer Kinder-Zeitschrift konnte man durch die Kleidung bis auf die Unterwäsche sehen. Die Bibliothekarin hatte die Brille an Herrn Rafka ausprobiert und so hatte eins zum anderen geführt, doch das nicht zu einer dauerhaften privaten Beziehung, was ihre berufliche Beziehung seitdem ein wenig … belastete.
„Ticken tut es nicht“, sagte Herr Rafka, um das Gespräch wieder auf ein anderes, weniger belastendes Thema zu lenken.
„Das bedeutet gar nichts“, erwiderte Frau Müller-Liebelein. „Ich rufe jetzt jedenfalls die Polizei!“

„Haben Sie sich eigentlich überlegt, was die Polizei mit dem Päckchen machen wird?“, fragte Herr Rafka, als die Bibliothekarin von ihrem Telefonat zurückkam.
„Na, mitnehmen, was denn sonst?!“, antwortete Frau Müller-Liebelein.
„Mitnehmen?! Von wegen, die gehen kein Risiko ein. Die sprengen das, egal ob da eine Bombe drin ist oder nicht. Gleich hier vor Ort. Das Thriller-Regal können Sie danach vergessen und große Teile der Kinderbücher da drüben auch.“
„Meinen Sie wirklich?“ Frau Müller-Liebelein zuckte erschrocken zusammen. „Können Sie denn nicht wenigstens lesen, was da drauf steht?“
„Wie kommen Sie denn darauf? Das ist doch arabisch!“
„Ich dachte, Sie könnten arabisch. Sie stammen doch von da.“
„Meine Großeltern kommen von dort, aber schon meine Eltern sind beide in Deutschland geboren. Sie sprechen doch auch kein indogermanisch mehr, oder?“
„Wollen Sie es öffnen oder soll ich es tun?“ Diesmal war es Frau Müller-Liebelein, die das Thema wechselte und ihr Mitarbeiter, der erschrocken zuckte. „Wenn die Polizei das Paket sowieso sprengt, können wir es auch gleich selbst aufmachen. Dann haben wir wenigstens die Chance, dass da doch nur dreckige Wäsche drin ist. Also: Sie oder ich?“, wiederholte die Bibliothekarin ihre Frage.
„Sie!“, antwortete Herr Rafka.
„Männer“! Frau Müller-Liebelein stöhnte und streckte ihre Hände nach dem Päckchen aus, während Herr Rafka schnell hinter dem Regal mit dicken Fotobänden in Deckung ging. Es dauerte eine Weile, bevor es der Bibliothekarin mit ihren zittrigen Händen gelang, das blassrosa Geschenkpapier des Päckchens zu entfernen

Liebe Frau Müller-Liebelein,

Wahrscheinlich erinnern Sie sich gar nicht an das kleine schwarzhaarige Mädchen, das jeden Tag in Ihre Bücherei kam. Aber ich wollte mich bei Ihnen bedanken, weil sie mich die Liebe zu Büchern gelehrt und mein Leben dadurch um so viel reicher gemacht haben. Stellen Sie sich vor: Jetzt studiere ich englische Literatur und schreibe meine Abschlussarbeit über Stephen King. Das war doch auch ihr Lieblingsautor, oder? Ich habe meinen Cousin geschickt, ihnen dieses kleine Päckchen mit den Keksen zu bringen und ihm extra darauf notiert, was er tun soll, damit er es nicht vergisst. Aber wahrscheinlich hat er sich sowieso nicht getraut, es Ihnen persönlich zu geben und es einfach irgendwo abgestellt. Und es gibt noch eine Neuigkeit: Ich werde bald heiraten. Literatur ist wundervoll, aber es gibt auch eine Welt außerhalb der Bücher.
Vergessen Sie das bitte nicht.
Ihre Fatima.“


„Von wem ist es?“, wollte Herr Rafka wissen, der sein Versteck verlassen hatte, nachdem der erwartete Knall ausgeblieben war.
„Von einer jungen, alten Kundin“, antwortete Frau Müller-Liebelein abwesend und griff nach den Keksen, die neben dem Brief lagen. Vielleicht hatte Fatima recht. Vielleicht waren Bücher doch nicht alles. Viel, aber eben nicht alles. Und vielleicht sollte sie sich und Herrn Rafka doch noch mal eine zweite Chance geben.
„Mögen Sie?“ Die Bibliothekarin hielt ihrem Kollegen lächelnd die Kekstüte hin.
Herr Rafka zögerte einen Moment, dann griff er zu. Schweigend und ebenfalls lächelnd, während sich draußen auf der Straße die Sirenen der Polizeiwagen näherten.

(Wir war das damals mit Frau Müller-Liebelein, Herrn Rafka und der Röntgenbrille? Hier nachzulesen.)

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