Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 12. Juni 2014

Homo Ehe – Rüdiger Bertram

Thomas nippte an seiner Kaffeetasse, dann legte er seine Füße auf den Tisch. Es würde sowieso niemand mehr kommen. Zu den Biologielehrern verirrte sich am Elternsprechtag nur selten jemand. Thomas sah auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, dann war auch dieser Mütternahkampftag überstanden, und er konnte sich endlich wieder wichtigeren Sachen widmen.

KLOPF! KLOPF! KOPF!

Erschrocken zuckte Thomas zusammen und verschüttete dabei kalten Kaffee über sein Hemd. Noch bevor er „Herein!“ rufen konnte, ging die Tür auf und eine Frau stürmte in das Klassenzimmer. An ihrer Hand zog sie einen Jungen hinter sich her. Es war Isaak aus der fünften Klasse. Der Junge war einer seiner besten Schüler, klug und gleichzeitig sensibel. Entsprechend schwer hatte er es in den Pausen.

Isaaks Mutter musterte Thomas missbilligend, bis der endlich verstand und die Füße vom Tisch nahm. Dann setzte sich die Frau, während ihr Sohn hinter ihr stehenblieb. Es war nicht schwer zu erkennen, wie viel Überwindung es den Jungen kostete, nicht einfach davon zu laufen. Im Gegensatz zu Thomas wusste er, was seinem Biologielehrer bevorstand.
„Hat mein Sohn das hier von Ihnen?“ Grußlos knallte ihm die Frau ein Arbeitsblatt auf den Tisch. Thomas warf einen kurzen Blick darauf und nickte nur. In Isaak Klasse hat er in den letzten Wochen die Entwicklung des Menschen durchgenommen.

„Ich finde es unerträglich, was Sie den Kindern hier beibringen!“, zischte die Frau. „Haben diese Schwulettis den Lehrplan jetzt schon völlig unterwandert, oder ist das auf ihrem rosa Mist gewachsen?!“

„Wie bitte?“ Thomas wusste immer noch nicht, worauf die Frau hinauswollte, fühlte sich aber zunehmend unwohl.

„Na, da steht es doch! Schwarz auf weiß!“ Die Frau pochte auf das Blatt als wollte sie ein Loch in den Tisch hacken, während ihr Sohn den Klassenraum nach Fluchtmöglichkeiten abzuscannen schien.

„Ich befürchte, ich verstehe immer noch nicht.“ Thomas verfolgte den Blick des Jungen, der an einem offenen Fenster hängenblieb.

„Können Sie nicht lesen? Ist das so eine Schwulen-Quotenstelle, die Sie haben?“ Die Frau sah ihn mit unverhohlenem Abscheu an, dann las sie – und Thomas konnte bei jeder Silbe spüren, wie viel Überwindung es sie kostete. „HOMO Sapiens! Und hier steht sogar HOMO Erectus! Widerlich! Einfach nur widerlich! Bäh!“

Sie hatte tatsächlich „Bäh!“ gesagt. Thomas musste grinsen. Er sah ihr an, dass sie jetzt gerne einen Schluck Wasser getrunken hätte, um sich den Mund auszuspülen, während ihr Sohn hinter ihr vor Scham elendig krepierte. Für einen Moment überlegte Thomas, ihr etwas von seinem kalten Kaffee anzubieten.

„Ich kann Ihnen das gerne erklären, dass Wort Homo bedeutet …“ Weiter kam er nicht. Die Frau hatte einen Blick auf die Uhr geworfen und war aufgesprungen. „Sparen Sie sich Ihre warmen Ausreden! Ich habe keine Zeit mehr, ich muss noch zu Isaaks Physiklehrer. Mit diesem ganzen Urknall-Unsinn verdirbt er die unschuldigen Seelen unserer armen Kinder.“

Isaak zuckte entschuldigend die Schultern, als seine Mutter ihn grußlos hinaus auf den Flur zerrte. „Wo doch jeder halbwegs vernünftige Mensch weiß, dass Gott allein es war, der die Welt in sieben Tagen erschaffen hat.“

Mit einem Knall – lauter als der Urknall – warf sie die Tür hinter sich zu. Thomas atmete einmal tief durch, dann legte er die Füße wieder auf den Tisch. Etwas später klopfte es erneut.

„Der Sprechtag ist zu Ende, ich bin nicht mehr da“, rief Thomas.

Die Tür ging trotzdem auf und ein Mann betrat den Raum.

„War die Verrückte auch bei dir?“, fragte er lachend.

„War sie“, nickte Thomas.

„Armer Isaak. War das nicht der, den der Wal wieder ausgespuckt hat?“

„Das war Jonas. Isaak war der Sohn Abrahams. Sein Vater hat ihn Gott als Opfer dargebracht. Na ja, beinahe jedenfalls.“

„Meinst du, wir sollten sie zu unserer Hochzeit einladen?“ Der Mann ging um den Tisch herum und gab Thomas einen Kuss zur Begrüßung.

„Zu so einer Satansmesse käme sie sowieso nicht“, erwiderte Thomas. „Oder nur in Begleitung eines Exorzisten.“

„Schade, das würde bestimmt lustig werden, wenn sie uns erklärt, wie die Dinosaurier in ihre Schöpfungstheorie passen. Apropos Dinosaurier, ich habe fürs Buffet zwölf Käse-Igel bestellt. Todschick retro, oder?“

„Todschick“, wiederholte Thomas, der in Gedanken bei Isaak war. Der Junge tat ihm leid, einerseits. Anderseits wirkte er nicht so, als würde er sich das eigene Denken verbieten lassen. Isaak würde seinen Weg gehen, da war sich Thomas sicher. Er selbst hatte es ja auch geschafft.

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