Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 23. Januar 2014

Brille – Rüdiger Bertram

Die Brille gab es als Zugabe. Aber das war Tim egal. Er hatte sich das Heft nur wegen des Comics gekauft. Das Cover versprach das neueste Abenteuer seines Lieblingssuperhelden Cäptn Röntgen. Tim hatte lange gespart, um sich das Magazin kaufen zu können. Mit abgezählten fünf Euro dreißig war er zum Kiosk marschiert und hatte das Geld auf die Theke gelegt. Für Süßigkeiten war da nichts mehr übrig geblieben. Der Kioskbesitzer hatte ihm trotzdem einen Kaugummi geschenkt, weil er ein treuer Kunde war. Alle zwei Monate gab es ein neues Abenteuer von Cäptn Röntgen und Tim war immer unter den ersten, die es kauften.

In den drei Ausgaben davor hatte es als Gimmick eine Dose Slimy, ein Tütchen mit Urzeitkrebsen und einen Verarsche-Fotoapparat gegeben, der statt Bilder zu knipsen Wasser verspritzte. Tim hatte das Zeug unbesehen an seinen kleinen Bruder verschenkt, damit der ihn in Ruhe lesen ließ. Leider hielt die Bestechung nicht lange, und deswegen ging Tim mit seinem neuen Comic lieber in die Bücherei. Dort hatte er seine Ruhe.

Tim setzte sich an einen Tisch und begann vorsichtig, die aufgeklebte Plastikbrille vom Cover zu lösen, ohne dabei das Porträt von Cäptn Röntgen zu zerreißen. Er wollte die verspiegelten Gläser gerade in den nächsten Papierkorb schmeißen, als er Maya entdeckte. Sie stand nur zwei Regale von ihm entfernt. Das war die Ecke mit den Mädchenbüchern, um die Tim immer einen großen Bogen machte als wäre ihr Inhalt ansteckend. Eigentlich war nichts Schlimmes dabei, wenn sie ihn hier in der Bücherei sah. Trotzdem setzte sich Tim schnell die Brille auf und beugte sich tief über das Heft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag.

Die Brille taugte nichts. Aber das hatte Tim auch nicht anders erwartet. Von den Comicstrips war durch die Gläser kaum etwas zu erkennen. Alles war irgendwie verschwommen, halbdurchsichtig, so als schaute er sich die Bilder unter Wasser an. Tim hob den Kopf und blickte wieder zu dem Regal mit den Mädchenbüchern. Maya stand immer noch da, doch statt ihrer blauen Jeans und dem roten Pulli hatte sie jetzt nur noch ihre Unterwäsche an: einen rosa Slip und ein gleichfarbiges, bauchfreies Trägerhemdchen.

„AHHH!“ Tim schrie auf. Er konnte gar nicht anders.

„Hallo Tim! Du auch hier?! Was liest du denn da?“ Maya hatte sich zu ihm umgedreht und lächelte ihm freundlich zu. Tim war unfähig, ihr zu antworten. Er starrte sie einfach nur an. Im selben Augenblick schoss Frau Müller-Liebelein um die Ecke. Die Augen der Bibliothekarin funkelten wütend, weil Tim es gewagt hatte, die heilige Ruhe ihrer Bücherei zu stören.

„AHHHHHHHHH!“ Tims zweiter Schrei war noch lauter als der Erste. Frau Müller-Liebelein trug nichts außer einer riesigen geblümten Unterhose und einem BH, der mit der Aufschrift „007 - Lizenz zum Lesen“ bedruckt war. Die Körbchen ihres BH’s waren so groß, dass man die Schrift nicht einmal hatte abkürzen müssen.

Tim riss sich die Brille von der Nase und presste seine Lider fest aufeinander, um das alles nicht sehen zu müssen. Als er die Augen wieder öffnete war Maya verschwunden, aber Frau Müller-Liebelein stand immer noch vor ihm und zischte drohend: „In meiner Bücherei wird nicht gebrüllt, haben wir uns verstanden?“

Tim nickte nur. Er war dankbar und glücklich, dass sie jetzt wieder ihr Kleid mit dem Fischmuster trug. Fische waren stumm und Frau Müller-Liebeleins Lieblingstiere, das wusste Tim noch von der Büchereiführung, die er in der Grundschule mitgemacht hatte.

Als Tim die Bibliothek verließ, hatte er den Comic ausgelesen. Er warf ihn zusammen mit der Brille in den Papierkorb. Das Heft war nicht so gut gewesen, wie er gehofft hatte. Die Story war eine einzige Enttäuschung gewesen, weil es Cäptn Röntgen bis zum Ende nicht gelungen war, die Welt vor dem bösen Optikerator zu retten. Und Maya musste er jetzt auch aus dem Weg gehen, sonst würde er bestimmt knallrot werden, wenn er sie traf. Insgesamt war der Kauf ein Scheißgeschäft gewesen.

Frau Müller-Liebelein entdeckte die Brille beim Aufräumen der Bücherei. Wegen der Störung am Nachmittag war sie noch immer höchst verärgert, als sie die Gläser in die Hand nahm und sich neugierig auf ihre Nase setzte.
„Kann ich vorne jetzt abschließen?“ Ihr neuer Kollege, Herr Rafka, blickte sie fragend an. Frau Müller-Liebelein lächelte besänftigt. So wie sie das sah, versprach der Abend vielleicht doch noch ganz nett zu werden.

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