Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 20. Februar 2014

Killerspiele (Winnenden) – Antje Herden


Nach der Schule wollte ich noch ein Brausebonbon in der Bäckerei kaufen. Hinter mir stand die dicke Frau aus der Lindenstraße.
„Haben Sie es schon gehört“, raunte sie über mich drüber der Bäckersfrau zu, „die Schmidt ist Amok gelaufen.“
Ich erschrak. Frau Schmidt wohnt im Haus neben unserem.
„Na, das war ja abzusehen“, erwiderte die Bäckersfrau, als ob ich gar nicht da wäre. Sie schob mir aber das Brausebonbon zu. Eigentlich schob sie mir sogar zwei Bonbons zu. Das eine steckte ich in den Mund. Das andere wollte ich Fabio schenken. Lutschend lief ich nach Hause.

Amok kenne ich. Ich weiß aber nicht so genau, was das ist. Oma hat eine Freundin in einer Stadt mit W. Da gab es das mal. Es ist etwas sehr, sehr Schlimmes. Ein großes Unglück. Als ich Oma fragte, was denn da genau passiert war, sagte sie aber, dass wir darüber nicht reden sollten. Weil es den Betroffenen wehtun würde. Natürlich will ich niemandem wehtun. Schon gar keinem, der ein Betroffener ist. Das hört sich ja fast an wie Getroffener. Wenn der starke Paul mich beim Völkerball abwirft, tut es jedenfalls sehr weh. Da braucht keiner mehr drüber reden.
Das mit dem Wehtun hatte Oma auch gesagt, als ich wissen wollte, warum Herr Schulz aus unserer Straße im Rollstuhl sitzt. Als ich ihn letztens alleine traf, habe ich ihn gefragt, ob ich eine Runde mitfahren könnte. Der Rollstuhl hat nämlich einen kleinen Hebel zum Lenken. Das ist ein bisschen so wie bei Fabios Playstation. Erst hatte Herr Schulz mich ganz überrascht angeguckt. Aber dann hat er mich hochgehoben und wir sind losgdüst. Ich durfte auch mal an den Hebel. Das war cool. Unterwegs habe ich Herrn Schulz dann gefragt, warum er nicht laufen kann. Er hat es mir einfach erzählt und dabei nicht geweint. Oma hatte also nicht recht gehabt.

Vor einer Weile hat Oma mal besorgt den Kopf geschüttelt und gesagt: „Das mit Fabio und der Playstation wird noch ein schlimmes Ende nehmen.“
„Warum?“, habe ich gefragt.
Ich bin manchmal den ganzen Nachmittag bei ihm. Erst spielen wir im Garten und dann Angry Birds. Mit der Playstation. Fabios Mama lässt uns eine Stunde Angry Birds spielen, wenn wir vorher zwei Stunden im Garten waren. Hinterher gilt nicht.
„Wegen der Killerspiele“, hat Oma gesagt.
„Killerspiele?“, habe ich gefragt.
Oma hat mit dem Kopf genickt. So wie sie es macht, wenn sie weiß, dass sie es weiß. „Denk an W., wo meine Freundin wohnt“, hat sie gesagt.
Ich habe nicht gewusst, was sie meinte. Dass es irgendwas mit diesem Amok zu tun haben musste, war aber klar.

Ich war etwas besorgt. Konnte ich einfach so nach Hause gehen? Was war mit unserer Nachbarin und ihrem Amok? War das gefährlich? Ob sie auch eine Playstation hat?
Das Brausbonbon krachte in meinem Mund. An der scharfen Kante schlitzte ich mir ein bisschen die Zunge ein. Das passiert mir immer. Als das Brausepulver in den Schlitz kam, brannte es.
Vielleicht hat Frau Schmidt ja ihr Haus in Brand gesteckt? Oder den Apfelbaum im Garten. Vielleicht brannte der noch. Dann könnte ich schnell hinlaufen und den Elternbrief in die Flammen werfen. Dann wäre der schon mal weg und Frau Bangemann könnte nicht kontrollieren, ob Oma ihn unterschrieben hat. Eigentlich müsste er ja für uns Omabrief heißen. Fabio hat keinen Papa. Da müsste der Brief Mamabrief heißen. Aber immer heißt er nur Elternbrief.

Als ich in unsere Straße kam, waren alle Brausebonbonkrümel weggelutscht und das Haus von Frau Schmidt brannte nicht. Im Garten lag ein großer Haufen Sachen: der Fernseher, die Schuhe und Hemden von Herrn Schmidt, eine Modelleisenbahn und eine Bettdecke. Eine Playstation war nicht dabei.
Vor dem Gartenzaun standen ein paar Frauen und steckten die Köpfe zusammen. Oma mittendrin. Bestimmt erzählte sie den anderen, was sie wusste. Letzte Woche hatte Frau Schmidt nämlich an unsere Tür geklingelt. Oma hatte Kaffee gekocht und dann ganz lange mit ihr im Wohnzimmer geredet. Die Tür hatten sie zugemacht. Ich glaube, Frau Schmidt hatte geweint.
„Lisa, ab ins Haus“, sagte Oma, als sie mich entdeckte. Sie zeigte auf unsere Haustür.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich trotzdem. Aber Oma schüttelte den Kopf. Keine Chance.
Ich stellte meinen Schulranzen in die Ecke. Dann lief ich wieder nach draußen.
„Ich gehe zu Fabio“, rief ich Oma zu. „Die Bäckersfrau hat mir ein Brausebonbon geschenkt. Das bringe ich ihm.“
Außerdem musste ich ihn endlich mal fragen, ob er wußte, was eigentlich Killerspiele waren.

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