Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Virginia Woolf – Antje Herden


Mein Name ist Virginia. Das wird nicht Wördschinia geschrieben. Darum dauerte es etwas länger, bis ich richtig lesen konnte. Nun kann ich es und im Juni werde ich schon sechs Jahre alt.

Ich wollte gar nicht angeben, als ich es ihm erzählte. 
„Schau mal, ich kann lesen“, sagte ich ganz leise und hielt das neue Heft aus dem Altpapier hoch. Nur ein bisschen. Ich wollte ihn ja trotzdem nicht stören. Er schaute aber nicht zu mir, sondern auf den Fernseher.
„Adack“, las ich vor. Dann hob ich das Heft doch noch ein Stückchen höher.
„Willst du mich verarschen?“, schrie er, riß das Heft aus meiner Hand und schlug mir damit auf den Kopf. Das tat aber nicht weh. Ich war ja auch selbst schuld. Ich wusste doch, dass er nicht gestört werden will. Niemals. Ich lief in mein Zimmer.
„Adack!“, schrie er mir nach. „Bist du bescheuert! Du und lesen. Das ich nicht lache. Das heißt AH DE Ah CE!“
Ich schluckte etwas. Aber nur ein bisschen. Bescheuert ist ja nicht sooo schlimm. Dann holte ich die leere Colaflasche unter meinem Bett hervor. Komisch. C wie Cola. Aber dann dachte ich an meinem Namen und da wusste ich, dass die Dinge manchmal anders sind als sonst.

Unter dem Bett lagen auch die Umsonstzeitungen, die ich mir manchmal aus dem Briefkasten hole, bevor der Wind sie in den Hinterhof hinter die Mülltonnen weht. Dann habe ich noch ein Goldenes Blatt, das hat mir Frau Schmitt von unten geschenkt, das AH DE AH CE-Magazin und ein richtiges Buch. Das Buch lag letztens im Park neben der Bank. Ich habe es lange beobachtet, aber niemand hat es abgeholt. Ich glaube, ich habe es nicht geklaut.

Frau Schmitt hat gesagt, wenn ich lesen lernen möchte, soll ich doch in die Bücherei gehen. Dort kann man sich nämlich Bücher ausleihen. Ohne zu bezahlen. Ich habe Mama gefragt, ob sie mit mir hingeht. Aber Mama hat gesagt, sie ist zu müde und außerdem weiß sie auch gar nicht, wo die Bücherei ist. Ich sollte ihn fragen.
Mama ist immer müde. Darum muss sie den ganzen Tag im Bett liegen. Ich habe mal gesagt, dass sie vielleicht zu einem Arzt gehen muss. Da hat sie erst gelacht und dann so dolle gehustet, dass sie dringend ein großes Glas Medizin trinken musste. Wenigstens hat sie die Medizin. Ich mache mir trotzdem große Sorgen.
Ihn habe ich nicht gefragt. Er mag es nicht, wenn ich mit ihm spreche oder wenn er mich sieht. Darum war es auch dumm, als ich ihm das von dem Lesen erzählen wollte. Oder eben bescheuert.

Zwei Blöcke weiter habe ich einen richtigen Bücherladen entdeckt. Reingehen traue ich mich nicht. Aber der hat ein großes Schaufenster. In einer Ecke davon liegen die Bücher für die Kinder. Die habe ich mir durch die Scheibe schon alle ganz genau angeguckt und die Namen gelesen. Daneben liegen die Bücher für Erwachsene. Die habe ich mir dann auch noch angeschaut, als ich die Kinderbüchernamen alle gelesen hatte.
Und dann sah ich es.

Erst wollte ich nicht so genau hingucken. Denn auf dem Buch waren ein Mann und eine Frau die miteinander kämpften. Fast sah es aus wie ein Foto von Mama und ihm. Als es mir keine so große Angst mehr machte, entdeckte ich ein kleines Wunder: Auf dem Buch stand mein Name!
Ich heiße ja eigentlich Virginia Pläschke. Die Virginia auf dem Buch hieß aber mit Nachnamen Wolf. Ich musste kichern. Die hatten sich nämlich verschrieben. Wolf mit zwei O.  Wolf wird aber mit nur einem O geschrieben. Das weiß ich genau. Aber auch mit einem Fehler drin ist Virginia Wolf ein toller Name. So würde ich gerne heißen. Wölfe sind mutig und stark und gefährlich.

Heute Morgen ging ich wieder zum Buchladen. So wie jeden Tag, seitdem ich ihn entdeckt habe. Obwohl es heute fast nicht geklappt hätte.
Gestern Abend beim Abwaschen war mir nämlich ein Glas runtergefallen und in tausend klitzekleine Stücke zersprungen. Die Kacheln waren ganz schnell rot, aber mein Fuß hat gar nicht so dolle wehgetan.
„Du ungeschickte Kuh!“, hatte er gebrüllt und war in die Küche gerannt gekommen. Ich konnte mich nicht mehr ducken. Zum Glück bin ich mit dem Kopf nicht wieder gegen die Ecke vom kaputten Schrank gedonnert, so wie schon mal. Sonst hätte ich heute nämlich nicht zum Buchladen gehen können.

Manchmal liegen am nächsten Tag neue Bücher im Schaufenster. Aber heute war das Buch mit meinem Namen noch da.
WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF?
Ich guckte lange darauf.
Als die Frau mit dem netten Gesicht an die Tür kam, obwohl da gar niemand war, nur ich, bin ich schnell weggerannt.

Im Park spielten die anderen Kinder auf dem Spielplatz. Mama hat gesagt, ich soll da wegbleiben. Die würden mich nicht mögen und wollen nicht, dass ich mitspiele. Ich schaute ihnen eine Weile zu.
„ALLE!“, schrie ich dann. „IHR ALLE!“

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