Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 1. Oktober 2015

Nivea – Rüdiger Bertram


Bei der ersten Dose war es Neugier gewesen. Jo wollte sehen, wie ihr kleiner Bruder mit der weißen Creme im Gesicht aussehen würde.
„Halt still, dann kriegst du nachher auch einen Lolli von mir“, hatte sie Samuel bestochen und dann die blaue Dose geöffnet.
Weil Samuel Lollis mehr liebte als alles andere auf der Welt, hatte er keine Miene verzogen, als Jo ihm die Creme auf Wangen, Stirn und Nase geschmiert hatte. Mit dem Ergebnis war seine große Schwester so zufrieden gewesen, dass sie Samuel noch einen zweiten Lolli versprach, wenn sie ihm auch die Hände, Arme und den Oberkörper einschmieren durfte. Später waren noch weitere Lollis dazugekommen und nun – eine Stunde später – war Samuel von Kopf bis Fuß in weiße Creme gehüllt und stolzer Besitzer von acht Lollis. Er sah aus, als hätte man ihn von oben bis unten mit Sprühsahne eingesprüht.
Die siebenunddreißig blauen Dosen, die dafür nötig gewesen waren, hatte Jo aus dem Keller geholt. Ihre Mutter liebte Sonderangebote und kaufte die Schnäppchen immer gleich kartonweise ein.
„Das fühlt sich blöd an“, maulte Samuel.
„Sieht aber super aus“, erwiderte Jo. „Du bist ganz weiß!“
„Ich will aber nicht weiß sein.“ Samuel fing an zu weinen. „Mach das weg!"
„Wenn du unbedingt willst.“ Jo konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen und holte ein paar Handtücher aus dem Bad.
Es war gar nicht so leicht, die Creme von Samuels Haut zu wischen. Die Schicht war zu dick und ließ sich auch nicht einfach so einmassieren. Mit Wasser ging es auch nicht viel besser. Das muss mit dem Fett in der Creme zu tun haben, dachte Jo. Sie erinnerte sich, dass sie so etwas Ähnliches mal im Chemie-Unterricht gelernt hatte.
„Am besten, du kletterst in die Spülmaschine“, sagte Jo. „Da bist du das Zeug sofort wieder los.“
Jo hatte das mal im Kinderfernsehen gesehen. Da hatte der Moderator eine ganze Schwarzwälder Sahnetorte in die Spülmaschine gestellt und als sie durchgelaufen war, war die Torte verschwunden. Das Spülprogramm hatte die fettige Sahnecreme komplett aufgelöst.
„Ich will nicht in die Spülmaschine“, heulte Samuel.
„Du musst aber“, erwiderte Johanna und zog ihren Bruder in die Küche. „Kriegst auch noch zwei Lollis von mir.“
„Echt?“
„Echt!“
Jo räumte die Geschirrkörbe aus der Maschine, um Platz für ihren kleinen Bruder zu schaffen. Dann gab sie ihm eine Taschenlampe, damit er sich im Dunkeln nicht fürchtete, und drückte ihm zwei weitere Lollis in die Hand.
Jo stellte das Kurzprogramm ein und nutzte die Zeit, die siebenunddreißig leeren blauen Dosen in der gelben Tonne auf dem Hof verschwinden zu lassen. Nach exakt dreißig Minuten machte es PLING. Jo öffnete die Tür und half ihrem Bruder ins Freie. Die weiße Creme war tatsächlich verschwunden, dafür aber war Samuel Haut jetzt so rot wie bei einem gekochten Hummer.
„Das Wasser war heiß“, jammerte Samuel.
„Stell dich nicht so an“, erwiderte Jo. „Die rote Farbe geht von allein weg und dann hast du wieder deine braune Haut. Die ist sowieso viel schöner, ganz egal, was die anderen zu uns sagen.“

Donnerstag, 16. Juli 2015

Erst Sommerpause, dann Lesung

Ihr habt es sicher schon bemerkt, wir sind in der Sommerpause. Dort bleiben wir auch bis in die zweite Septemberwoche. Dafür sind wir dann in der dritten Septemberwoche extrapräsent: Wir lesen für Euch!

Unsere dritte Lesung findet am 19. September in Berlin statt, um 20 Uhr im Unions-Kino / Bölschestr. 69 / 12587 Berlin-Friedrichshagen.
Die Tickets kosten 10 Euro und sind im Vorverkauf im Kino erhältlich.
Wir freuen uns auf Euch, also kommt vorbei!

Rüdiger, Kai und Antje


Freitag, 3. Juli 2015

Donnerstag, 25. Juni 2015

Mischgemüse – Antje Herden


Sie hatten sich schon auf dem Acker gestritten 

die ersten beiden, denn des dritten 

Gesicht 

kannten sie da noch nicht. 

Als der Vierte kam, war alles zu spät. 

Die ganze Geschichte begann im Beet. 



Dort erklang allabendlich in stimmiger Weise 

ein leiser Shanty von einer Reise, 

Elend, 

und hohen Wellen erzählend. 

Sie sangen zusammen, dicht an dicht. 

Scham, gar Schmach, kannten sie nicht. 



Doch aus dunkler Erde hörte man ein Spotten. 

Voll des Hohns riefen die Karotten: 

„Dick!“ 

Würfen zu gern den Hämeblick 

auf das kuglige Volk in seiner Schot. 

Denn nur das war es – und kein Boot! 



Randale im Innern ließen die Hülsen zittern. 

Man sah die Bäurin aufgeregt twittern: 

„Mysterium!“ 

Ein blumiges Karfiolkonsortium 

hielt Reden auf der Erbsen Recht. 

Doch die, hochverärgert, hörten schlecht. 



„Wir sind das Gemüse von Zweitausendzehn, 

drum sorgt für unser Wohlergehn, 

Möhren! 

Sonst gibt’s was auf die Öhren!“ 

Die Rüben hielten dagegen: „Pisum, 

erhältst für die feine Küche kein Visum!“ 



Zwischen Gräsern, weit weg vom Zornvergießen, 

begann ein Kreuzblütler zu schießen. 

„Zuhilf! 

Man befreie mich aus dem Schilf! 

Niemand behandle so einen Brokkoli, 

denn ihm gebühren Röschensoli im Tivoli.“ 



Sie landeten zusammen in einem Topf 

klein zerschnitten, Kopf an Kopf. 

Schluss!, 

erkannte ein jeder mit Verdruss. 

Ach, hätten sie doch aufgeschlossen 

gemeinsam das kurze Leben genossen. 



Über dem Feuer erhitzten im eisernen Brüter 

noch einmal die Gemüsegemüter. 

„Verrat!“ – 

das Wort bevor Stille eintrat. 

Es versiegten die Stöße jeder Erregungsdrüse 

und geschlossen ergab sich das Mischgemüse. 

Donnerstag, 4. Juni 2015

Kartoffeln – Rüdiger Bertram

Hymne

Mit Kartoffeln kann man kicken
oder sie nach China schicken.
Andere tun damit jonglieren,
einige auch apportieren.
Wenige spielen damit Boule,
so mit Rotwein und ganz cool.
Man kann damit auch sehr gut werfen
auf die Nachbarn, wenn die nerven.
Oder auch statt Muckibude
Kartoffeln quetschen in der Stube.
Sind auch gut zum Socken stopfen
oder gegen die Wände klopfen.
Manche aber, die sind nett,
nehmen sie noch mit ins Bett.
Bauern werfen sie aufs Feld
und hoffen, dass das Wetter hält.
Jäger nutzen sie als Kugel
oder suchen sie bei Google.
Andere machen aus den Knollen
wunderbare Weihnachtsstollen. 
Zu Ostern kann man sie bemalen
muss man keine Eier zahlen.
Tennisprofis damit spielen,
zumindest die, die etwas schielen.
Kartoffeln sind ganz wundervoll,
ich habe den ganzen Keller voll.
Doch anders als die andern oben,
bin ich ein klein wenig verschroben.
Ach was, ich bin ein irrer Hund,
ich glaub nämlich, die sind gesund.
Drum ess ich die Dinger gern gestampft,
das ist der beste Mittagsmampf.
Und sollten Reste sich ergeben,
kann man damit super kleben.
Es lebe die Kartoffel hoch,
heut und in 100 Jahren noch!

Donnerstag, 28. Mai 2015

Hackfleisch – Kai Lüftner

Der Typ am Fensterplatz war mir auf den ersten Blick suspekt.
Um nicht zu sagen zuwider.
Er schwitzte deutlich unter seinem Thomas-Gottschalk-Gedenk-Pfiffi in kackbraun und eine wabbelige Fettschürze hing unappetitlich über den Rand seines speckigen Gürtels. Auch der ganze Rest an dem Kerl wirkte wie dritte Ware Auslaufmodell im Ekelmodus.
Ich will mich an dieser Stelle nicht über seinen „Kleidungsstil“ mokieren, denn das würde zu weit führen und wäre gleichzeitig zu fies.
Wie um mich zu ärgern, funktionierte die Klima-Anlage im ICE – und ließ sich nicht ausschalten – so bekam ich das von ihm ausgehende Bahnhofsklo-Odeuvre direkt in den Kolben geblasen. Hurra, ich hatte also sowohl optisch, als auch olfaktorisch ins Schwarze getroffen mit meinem Sitznachbarn – Jackpot, Herr Lüftner – und ich spürte diesen mir altvertrauten und undefinierbaren Kumpel Hass durch mein Gedärm pumpen. Dieses leicht süßliche Gefühl von ein bis drei Jahren Knast wegen Unverhältnismäßigkeit.
Ich wusste bereits beim Platz nehmen, dass es ein Fehler war, nicht ein ganzes Abteil für mich allein gebucht zu haben, um nur im äußersten Notfall reizenden Austauschstudentinnen Asyl zu gewähren.
Okay, sechs Stunden Bahnfahrt würde ich schon irgendwie überstehen. Mein Spotify-Account war frisch freigeschaltet, der Handy-Akku voll und ich hatte den neuen Anthony Horrowitz im Rucksack. Alles würde gut werden – wenn da nicht diese Hackfresse ohne amtlichen Homo-Sapiens-Bewilligungsbescheid neben mir sitzen und vor sich hin transpirieren würde. Und zwar so, als ob er Gardena-Gartensprenger-Werbung würde machen wollen.
Zu allem Überfluss umklammerte er eine schwere Nike-Sporttasche auf seinem Schoß wie einen Goldschatz und benutzte unerlaubterweise die mittlere Armlehne.
Ich versuchte es so freundlich wie möglich und starrte ihn mit diesem Blick an, den mir mein Kampfsportlehrer für den Fall beigebracht hatte, dass alles andere keinen Sinn mehr machte. Ich hielt den Zeitpunkt für gekommen.
Er war noch weniger Alpha als erwartet und kuschte bereits, als ich das erste Mal tieffrequentig grunzte. Ehrlich gesagt, bekam ich Angst, dass er sich einpisste, so wie er mich mit seinen Schweineaugen anzuwinseln schien. Ein dicker Schwitzetropfen passierte die grobporigen Stirnwülste und ließ ihn blinzeln.
Widerlich, dieser Anblick.
Oh Gott, wie gern ich an diesem Kerl ein paar nicht dezente Handkantenschläge, Kipphandhebel oder Nervendruckpunkte ausprobiert hätte. Einfach nur so. Aber ich hatte kein Desinfektionsspray dabei und war auch irgendwie zu alt geworden, um mich immer und bedingungslos auf mein erstes (niederstes) Bedürfnis einzulassen. Auch wenn es sinnloser und gerade deshalb umso befriedigenderer Hass war. Außerdem befand ich mich auf dem Weg zu einer größeren Schul-Lesung. Keine Ahnung, ob das meinem Marktwert zuträglich wäre. Bei meinem Glück saß irgendeine überambitionierte Journaille im Abteil und wartete nur auf den Schnappschuss seines Lebens.

Ich versuchte mich in der Kunst des Ignorierens, starrte aus dem Fenster und entspannte bestmöglich zu Cannibal Corpse und Obituary. Es tat gut, die Sechzehntel der Doublebass bis in die Arschritze zu spüren. Entspannung pur.
Leider hielt das nicht lange vor. Erstens saugte Spotify dem Apfelfon derartig Saft, dass nach einer halben Stunde Pumpe war und zweitens begann der Typ neben mir konsequent großflächiger auszulaufen und gleichzeitig tickte er immer unignorierbarer und nervöser.
Das Wackeln seines Knies war absolut nicht kompatibel mit den Cannibal Corpse in meinem Ohr. Und mit Obituary erst recht nicht.

Ich entstöpselte mich also widerwillig und suchte Blickkontakt. Er warf sich beinahe auf den Rücken, als er sich fixiert fühlte. „Du oder die Tasche!“, sagte ich halblaut, um die zwei Minderjährigen hinter uns nicht allzu sehr zu brüskieren. Hey, ich bin gelernter Pädagoge mit Lehrauftrag. Ein bisschen zumindest.

Er nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, stand auf und sagte: „Okay, Tasche!“ Dann wuchtete er das Monster auf den Sitz. „Und du?“ fragte ich.
„Schließ mich bis Mannheim im Klo ein, okay?“
Es war fast zu einfach, um Spaß zu machen.
„Okay!“
„Würden Sie dann bitte so lange ein Auge auf meine Tasche haben?“
Das Ganze war an eine Bedingung geknüpft? „Gib mir deine Sitzplatzreservierung!“ sagte ich und atmete in meine Körpermitte.
Er zögerte keine Sekunde, reichte sie mir und streichelte die Tasche. Dann verdrückte er sich, schwitzend und wabbelig Richtung Zug-Toilette.

Ich muss zum Ende kommen und den Bogen zum Thema kriegen, deshalb nun die Offenbarung. Kurz vor Hannover habe ich den Reissverschluss der Tasche geöffnet, nur ein paar Zentimeter.
Ob Ihr es glaubt oder nicht: Das Teil war voll Hackfleisch. Wenn ich schätzen müsste, ca. 30 - 35 Kilo. Feinstes Mischhack in die Solinger Tageszeitung gewickelt.
Ich wollte nicht wissen, warum. Ich wollte nicht wissen, von wem. Ich genoss einfach den angenehmsten Sitznachbarn aller Zeiten und legte schützend meine Hand aufs Nike-Logo.

Diese Geschichte hat auch noch ein Ende.
Das hier ist es nicht und trotzdem ist nun Schluss.