Das Buch lag auf dem Nachttisch der Tante. Holofo nahm es in die Hand und wog es neugierig in seiner Rechten. Es war schwerer, als er erwartet hatte. Mit den Fingern strich er über den roten Einband. Das Leder fühlte sich rau an und an drei der vier Ecken war es schon ganz rissig. Das Buch musste uralt sein, mindestens fünfzig Jahre oder so, schätzte Holofo. Und genauso roch es auch, irgendwie muffig. Er schüttelte sich, weil ihn der Geruch an weiche, alte Kekse erinnerte.
Holofo war allein im Schlafzimmer. Die Tante war irgendwo im Garten. Durch das offene Fenster konnte er sie singen hören, eines ihrer traurigen Lieder, die sie schon die ganze Woche vor sich hin summte. Als er nach draußen blickte, sah er zuerst nur die Staubflocken, die in der heißen Juliluft über der Fensterbank tanzten, dann die Tante. Sie hing ihre schwarzen Röcke und Kleider an einer Wäscheleine auf, die zwischen zwei knorrigen Birnbäumen gespannt war.
Holofo wandte sich wieder dem Buch zu, das immer noch schwer in seiner Hand lag. Er lauschte einen langen Augenblick, um sicher zu gehen, dass die Tante nicht doch plötzlich hinter ihm stand.
Dann schlug er es auf
… und sofort wieder zu.
Seine Hand zitterte, als er das Buch zurück auf den Nachttisch legte. Doch kurz darauf griff er erneut danach. Diesmal horchte er nicht, sondern öffnete es gleich. Er zwang sich hinzusehen. Länger als beim ersten Mal. Auf dem Papier standen keine Sätze wie in den Büchern, die er kannte, sondern nur Namen, die jemand handschriftlich dort eingetragen hatte. Vornamen. Männliche und weibliche. Über den Namen waren die Zeichnungen von Gesichtern. Vielen Gesichtern, zwanzig oder dreißig auf jeder Seite. Sie starrten Holofo an, obwohl das gar nicht möglich war, weil sie keine Augen hatten. Aus leeren Augenhöhlen schauten ihn die Gesichter an.
Durch das Fenster hörte er, dass die Tante ihre Arbeit im Garten beendet hatte. Ihr Gesang näherte sich dem Haus, doch Holofo war unfähig, das Buch aus der Hand zu legen. Er blätterte weiter und weiter bis er die letzte Seite erreicht hatte. Das augenlose Bild zeigte einen Jungen mit blondem, schulterlangen Haaren und einer Stupsnase, die von zahllosen Sommersprossen besiedelt wurde. Holofo erkannte den Jungen sofort, dazu brauchte er gar nicht erst den Namen unter dem Bild zu lesen. Er tat es trotzdem.
„Holofo!“ rief die Tante aus der Küche. „Kommst du?! Es gibt Apfelkuchen und Kakao!“
Erschrocken schlug Holofo das Buch zu und legte es ein zweites Mal zurück auf den Nachttisch. Dann drehte er sich um und rannte aus dem Schlafzimmer. Der Apfelkuchen der Tante war köstlich, den wollte er auf keinen Fall verpassen. Und für die Zeichnungen und die Namen gab es sicher eine vernünftige Erklärung. Und falls nicht, war ihm das auch egal. Morgen holten ihn seine Eltern ab und brachten ihn wieder nach Hause
„Ich komme schon, Tante“, brüllte Holofo, als er durch den Flur stürmte.
„Aber halt die Augen offen, mein Schatz. Nicht, dass du dich irgendwo stößt“, antwortete die Stimme aus der Küche.
„Keine Sorge“, rief Holofo als er keuchend in der Küche ankam, wo die Tante am gedeckten Kaffeetisch schon auf ihn wartete. Sie lächelte ihn freundlich an, aber so leicht ließ er sich nicht täuschen. „Heute keinen Kakao für mich, heute hätte ich gerne eine große Tasse Kaffee.“
Er würde einfach die Augen offen halten, wie die Tante gesagt hatte, die ganze Nacht über. Bis morgen früh waren es nur sechzehn Stunden. Höchstens. Das würde er schon schaffen. Irgendwie. Hoffentlich.
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