Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 19. Juni 2014

kennen gelernt – Antje Herden



Ich war dreizehn und unsterblich verliebt. Er hatte die schönsten Augen der Welt, von meiner Existenz keine Ahnung und fuhr nachmittags im selben Bus.
Am Vortag dieser Geschichte hatte mir die Zahnarzthelferin die feste Spange von den Zähnen geklickt. An diesem Tag wollte ich den bisher nur von Ferne Angeschmachteten endlich einmal anlächeln.

Das hatte ich mit Bedacht vorbereitet. Obwohl ein ganzer Schultag dazwischen lag, hatte ich mich am Morgen an einer Frisur probiert, mir mit dem Mascara meiner Mutter Fliegenbeine geschminkt und aus ihrem Schrank einen meiner Meinung nach todschicken Overall sowie ein etwas zu kleines Paar Schuhe gemopst. Das Grinsen meiner Mitschüler ertrug ich stoisch. Die waren ein Jahr jünger als ich und hatten von der Liebe keine Ahnung.
Ich wusste, er würde um 13 Uhr 21 in den Bus vom Schloß ins Viertel steigen.

Es war drei Minuten nach eins. Fünf nach klingelte es zum Schulende, sieben nach fuhr die Bahn zum Schloß. Saß ich in der, dann erreichte ich den Bus um einundzwanzig nach. Vier nach fiel dem Lehrer leider etwas Superwichtiges ein, das drei Minuten dauerte, erzählt zu werden. Verflixt! Ich sah die Bahn noch am Horizont verschwinden.

Das Schloß war drei Kilometer entfernt und ich hatte elf Minuten Zeit. Das würde ich schaffen! Denn die Liebe verleiht Flügel. Ich zog den Gurt meiner Schultasche etwas fester, holte noch einmal tief Luft und rannte los.

Dass die Wege im Heimatstädtchen denkmalgeschützt gepflastert sind, war mir zuvor noch nie aufgefallen. Und auch als beide Absätze längst abgebrochen waren, erwiesen sich die ungefragt geliehenen mütterlichen Schuhe noch immer als äußerst ungünstig. Kurzentschlossen ließ ich sie hinter mir zurück. Ich würde sie vom Taschengeld bezahlen. Dass die spitze Glasscherbe sage und schreibe fünf Jahre brauchen würde, bis sie schließlich aus dem Mittelfinger der rechten Hand meinen Körper wieder verließ, konnte ich ja nicht ahnen. Ich rannte barfüßig und so schnell ich vermochte zwischen den Bahnschienen die Straße hinunter. Schon bald brannte es in meinem Hals, aber das lenkte mich von den schmerzenden Füßen ab. Außerdem lag ich gut in der Zeit.

Der Opa mit dem Krückstock muss schwerhörig gewesen sein, denn ich rief schon von weit her und auch sehr laut. Er blieb trotzdem stehen. Vielleicht sogar mit Absicht. Damit hatte ich nicht gerechnet und rannte ihn um. Schon mit dreizehn war ich sehr groß und hatte lange Arme. Damit umfasste ich den alten Herrn, wir drehten uns einmal um uns selbst und dann gelang es mir, mich im Fallen unter ihn zu werfen. Meine Hüftknochen donnerten schmerzhaft gegen die herausstehenden Pflastersteine, doch wenigstens waren die des Opas nicht gebrochen und ich nicht schuld an einem zu frühen Ende. Ob er sich bei mir bedankte, weiß ich nicht. Ich musste weiter.

Natürlich hatte diese Performance kostbare Sekunden gekostet. Ich beschleunigte meine Schritte. Nur darum konnte es passieren, dass ich den Kinderwagen zu spät sah, der mir resolut von einer Kampfmutter in den Weg geschoben wurde. Doch mir gelang es, auszuweichen. Meine gute Erziehung ließ mich dann aber den Kopf wenden, um eine fröhliche Entschuldigung herauszupressen. Darum konnte ich natürlich auch die Laterne nicht sehen.
Ich weiß, dass viele Menschen im Kino denken: ´Oh, welch ein Klischee!´. Zum Beispiel, wenn eine gegen eine Laterne rennt. Solche Menschen würden an meiner Seite wahrscheinlich verrückt werden.
Ich rannte gegen die Laterne und fiel ganz klassisch rückwärts um.

Möglicherweise war ich ein klein wenig ohnmächtig geworden. Sonst hätte ich „Nein!“ gerufen, als der nette türkische Ladenbesitzer aus eben jenem herauseilte, um das Eiswasser seiner Fischtheke zu entsorgen. Er handelte bestimmt aus reiner Nächstenliebe, aber das kam mir nicht in den Sinn, als ich mit einem Entsetzensschrei in die Wirklichkeit zurückkam und mich in einer eiskalten fischigen Lache widerfand.
Ich tat das einzig Vernünftige: stand auf, schüttelte die Flossen aus meinen nassen Haaren, betastete vorsichtig meine Nase und rief: „Wie spät ist es?“
„Siebzehn nach eins“, antwortete der Mann mit dem nun leeren Wassereimer.
„Das schaffe ich noch!“, nahm ich mir die Zeit zu rufen und rannte los.
„Willst du dir nicht wenigstens das Blut abwischen?“, rief er hinter mir her.

Ich schaffte es.
Bevor sich die Bustüren schlossen, schlüpfte ich schnell hinein. Abrupt wurde ich zurückgerissen. Dann öffnete der Busfahrer noch einmal die Türen, damit ich auch meine Tasche hereinholen konnte.
Als ich schließlich die drei Stufen ins Wageninnere erklomm, wichen die wenigen Fahrgäste ängstlich zurück. Ich ließ mich auf eine der gepolsterten Bänke fallen und schloß zu Tode erschöpft die Augen.
Plötzlich spürte ich eine Flasche an meinen Lippen.
„Trink!“, sagte jemand.
Dankbar trank ich.
„Brauchst du einen Arzt?“
Ich schüttelte den Kopf. Nein, es würde schon gehen. Ich würde überleben.

Es war übrigens nicht der Junge mit den schönen Augen, der das sagte. Den habe ich nicht kennen gelernt. Dafür aber mich und was ich bereit bin, für die Liebe zu ertragen.

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