Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 29. Januar 2015

Oscar Wilde – Kai Lüftner


Im halbblinden, angeschlagenen Spiegel des Bahnhofsklos sah mein teigiges von durchzechten Nächten und billigen Drogen verquollenes Gesicht genau nach dem aus was es war. Nur schlimmer.
Ich streckte mir selber die Zunge raus, sie war rissig und spröde, belegt und aufgedunsen. In meinem linken Augenlid zuckte es, ich konnte aber nichts finden, egal wie sehr ich das Lid nach oben zerrte und versuchte dahinter zu schauen.
Ich malte auf dem Spiegel die Konturen meines Kopfes mit meinem von Kotze verschmierten Finger nach, es wurde irgendwas gruseliges zwischen Oktagon und Totemmaske. Es hatte ein Fischmaul, das sich zu öffnen schien.
Ich verwischte es hektisch.

Möglicherweise war ich wahnsinnig geworden! Dieser erschreckend klare Gedanke ließ mich hysterisch auflachen, bis ich Schritte hörte und mich in meine Klokabine zurück zog. Die letzte ganz hinten an der Wand. Ich stemmte mich von innen gegen die Tür und lauschte und versuchte kein Geräusch zu machen.
Mein Atem ging allerdings schwer.

Die Tür öffnete und schloss sich gleich wieder. Die Schritte entfernten sich.
Tausend Interpretationen gingen mir durch den Kopf. Ein Spion? Die Bullen? Die Russenmafia? Oder doch der gealterte Dorian Gray?
Ich kicherte wieder und sackte dann auf den gilbigen Kacheln zusammen. Meine nasskalten Händen hielten die teigige Mischung aus Okatgon und Totemmaske wie ein brüchiges Artefakt. Zwischen den Fingern stieß ich röchelnd stinkenden Atmen aus, der froh zu sein schien, mich verlassen zu dürfen.

Das Bildnis des Dorian Gray zu lesen hielt ich für eine gute Idee - Absinth mit Stechapfel trinkend, Spice und dieses schwere marokkanische Hasch-Öl-Konzentrat kiffend. Mir war schlecht geworden und ich hatte mit einer nicht geringen Brise Rosé-Speed auf den Zähnen dagegen angekämpft. Kurz erfolgreich. Kurz darauf weniger erfolgreich.
Ich bekam hyperaktive Zuckungen und diesen ungesunden Bewegungsdrang, der mich auf die Straße trieb.

Später, es können Stunden, aber auch Tage gewesen sein, fand ich mich wieder, wie ich versuchte die festgewordene Kacke im Becken eben jener, mir so lieb gewordenen Kabine am Bahnhof abzupinkeln. Es gelang mir nicht, ich weinte, erst leise, dann lautstark, dann trank ich literweise Wasser und versuchte es weiter - solange bis ich erneut kotzen musste.
Es blieb egal, ob aus Ekel vor mir selbst oder der widerspenstigen Kacke im Becken.

In einem Turky-Fieber-Traum sah ich Charles Bukowsky mit Oscar Wilde knutschen, sie schoben sich ihre langen Pferdezungen übertrieben in die Münder und machten widerliche Geräusche.
Ich schrieb mir ein paar Zeilen dazu auf und merkte, dass ich gar kein Notizbuch dabei hatte. Ich fühlte mich elend und gleichzeitig so frei wie noch nie in meinem Leben.
Das Lachen kam mechanisch, das Heulen auch.
Hilfe. Hurra. Hilfe. Hurra.

Ich linste durch einen Spalt nach draußen, in die feindliche Welt.
Mein Blick fiel auf die verwischte Oktagon-Totemmaske und es war, als hätte jemand die Freeze-Taste meines Körpers gefunden und betätigt. Mein stilisiertes Spiegelbild-Fragment lächelte mir mit seinem Kotze-Fischmaul zu, aus dem sich die Bukowsky- und Wilde-Zungen schlängelten.

Hatte ich gerade wirklich um Hilfe geschrien, oder hatte ich es mir nur gewünscht? Die Abstände zwischen den klaren und unklaren Schüben wurden kürzer. Vor allem wusste ich längst nicht mehr welcher Schub welcher war. Und Drogen gab es auch keine mehr.

Nur noch dieses kleine Leseheftchen in meiner Hosentasche.
Dieses vermaledeite Buch dieses vermaledeiten Schriftstellers. Ich blätterte darin herum, als würde es Antworten auf meine Fragen bieten oder hätte einen Plan für die verwahrloste Stadt in meinem Kopf parat.
Alles war aus den Fugen geraten und ich befand mich mittendrin - in Auflösung.
Nahtlos gingen die diffusen Gedanken ineinander über. Eine Input-Achterbahn ohne Bremse.

Ich fuhr mit den immer noch kotzigen Fingern die einzelnen Zeilen dieses Werkes nach.
Es war ein dechiffrieren meines Zustandes, anhand der Kreativität eines anderen. Zumindest kam es mir so vor. Endlich war ich so betäubt wie ich glaubte sein zu müssen.

Ich raffte mich auf, hörte das Blut durch meinen Körper pumpen, spürte wie mich etwas verließ - und schlug das Buch zu.

Irgendwo zwischen seinen Seiten verschwand ich für immer.

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