Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Nachbarin Keks – Antje Herden


Als Mama und Papa sich so laut anzuschreien begannen, dass es auch alle anderen im Haus hören konnten, begann das mit den Keksen. Jeden Morgen lag ein kleines Päckchen neben meinen Schuhen auf unserem Fussabtreter. Darin waren zwei Kekse – klebrig, weich und süß wie kleine Stücke vom Glück. Einen aß ich sofort und den anderen versteckte ich unter meinem Bett in einer Blechdose. Für schlimme Zeiten.
Ich wusste natürlich, wer sie dort hinlegte. Auch wenn kein Absender daran war. Jeden Samstag duftete es nämlich lecker und köstlich nur unter einer der sechs Wohnungstüren in unserem Haus hervor. Die hübsche Frau, die dahinter wohnte, backte die tollsten Kekse der Welt. Das war so, weil sie Fräulein Keks hieß.

„Wenn das so weiter geht, siehst du mich nie wieder!“, schrie Mama am Sonntagmorgen.
Ich wusste längst, dass die Liebe eine Hure, das Leben ein Arschloch, Papa ein Scheißkerl und Mama eine blöde Zicke war. Das hatte ich alles in den letzten drei Wochen gelernt. Damit ich nicht noch mehr schlimme Sachen lernen musste, zog ich schnell meine Schuhe an. Dann schnappte ich einen Keks aus der Dose und lief die Treppe hinunter. Beinahe hätte ich wegen der blöden Tränen das Fräulein Keks gar nicht gesehen. Dabei sah sie sehr schön aus.
„Danke, Fräulein Keks“, sagte ich in der Mitte der Treppe.
„Gerne, lieber Anton“, sagte sie von unten.
„Du kannst mich mal!“, schrie Papa oben.
Im Park setzte ich mich auf eine Bank, sah den Enten beim Schwimmen zu und aß vom kleinen Glück. Ich musste mich ganz schön anstrengen. Erst beim allerletzten Krümel schmeckte ich es ein bisschen.

Als ich wieder zurückkam, stand ein großer Umzugslaster vor unserem Haus. Zuerst bekam ich einen riesigen Schreck. Doch dann sah ich einen fremden Mann eine große Palme aus dem Laster tragen.
„Guten Tag“, sagte ich, weil das jeder gut gebrauchen kann.
„Hallo, du bist bestimmt Anton, oder?“, lachte der fremde Mann. „Nelli hat mir schon von dir erzählt.“ Unsere hübsche Nachbarin kam lachend die Treppe runter und da wusste ich, dass das Fräulein Keks Nelli hieß.
Der fremde Mann und Fräulein Keks schleppten die Sachen aus dem Umzugslaster in die Wohnung, aus der es jeden Samstag so gut duftete. Auch schwere Sachen, wie das Sofa zum Beispiel. Trotzdem lachten sie die ganze Zeit. Ich setzte mich vor das Haus und sah ihnen beim Fröhlichsein zu. Dann fragte ich, ob ich helfen könnte. Sie gaben mir einen Korb zum Hochtragen der kleinen Dinge. Ich freute mich, dass ich beim Fröhlichsein dabei sein durfte.
Später saßen der Mann, der Jan hieß, und ich vor dem Haus in der Sonne, tranken Limonade und aßen Kekse.
„Anton, lass es dir sagen, das Leben ist schön“, sagte Jan.
„Wirklich?“, wunderte ich mich.
„Wirklich“, sagte Jan. „Es ist schön, wenn die Sonne scheint, wenn die Arbeit getan ist, wenn die Zukunft juchzend wartet und wenn man einen leckeren Keks hat.“
In dem Moment kam das Fräulein Keks zu uns und lächelte. Jan zwinkerte mir zu.
„Ich knabbere schrecklich gern an einem Keks“, sagte er.
Wahrscheinlich wurde das Fräulein Keks so rot im Gesicht, weil sie so glücklich war. Denn sie backte die tollsten Kekse der Welt und der neue Mann knabberte gerne welche. Das passte supergut.

Oben bei uns standen sich Mama und Papa in der Küche gegenüber und schrieen sich an. Ich schaute ihnen eine Weile zu und merkte, wie eine große Wut in mir immer größer wurde. Warum waren die beiden so dumm? Sie hatten keine Ahnung und kannten die Wahrheit nicht.
Ich rannte in mein Zimmer und holte die Dose mit den Keksen unter meinem Bett hervor. Damit lief ich in die Küche.
„Hört endlich auf zu streiten!“, brüllte ich.
„Halt du dich da raus!“, schrie Papa.
„Was sollen wir denn nur tun?“, schluchzte Mama.
„Knabbert mehr Kekse!“, rief ich und knallte die Dose auf den Tisch.
Dann ging ich zurück in mein Zimmer. Die große Wut war kleiner. Ich merkte Tränen in meinem Gesicht. Im Spiegel konnte ich aber sehen, dass ich lächelte. Das war so, weil das das Leben war.

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