Nach der Schule wollte ich noch ein Brausebonbon in der
Bäckerei kaufen. Hinter mir stand die dicke Frau aus der Lindenstraße.
„Haben Sie es schon gehört“, raunte sie über mich drüber der
Bäckersfrau zu, „die Schmidt ist Amok gelaufen.“
Ich erschrak. Frau Schmidt wohnt im Haus neben unserem.
„Na, das war ja abzusehen“, erwiderte die Bäckersfrau, als
ob ich gar nicht da wäre. Sie schob mir aber das Brausebonbon zu. Eigentlich
schob sie mir sogar zwei Bonbons zu. Das eine steckte ich in den Mund. Das
andere wollte ich Fabio schenken. Lutschend lief ich nach Hause.
Amok kenne ich. Ich weiß aber nicht so genau, was das ist. Oma
hat eine Freundin in einer Stadt mit W. Da gab es das mal. Es ist etwas sehr,
sehr Schlimmes. Ein großes Unglück. Als ich Oma fragte, was denn da genau
passiert war, sagte sie aber, dass wir darüber nicht reden sollten. Weil es den
Betroffenen wehtun würde. Natürlich will ich niemandem wehtun. Schon gar
keinem, der ein Betroffener ist. Das hört sich ja fast an wie Getroffener. Wenn
der starke Paul mich beim Völkerball abwirft, tut es jedenfalls sehr weh. Da
braucht keiner mehr drüber reden.
Das mit dem Wehtun hatte Oma auch gesagt, als ich wissen
wollte, warum Herr Schulz aus unserer Straße im Rollstuhl sitzt. Als ich ihn letztens
alleine traf, habe ich ihn gefragt, ob ich eine Runde mitfahren könnte. Der
Rollstuhl hat nämlich einen kleinen Hebel zum Lenken. Das ist ein bisschen so
wie bei Fabios Playstation. Erst hatte Herr Schulz mich ganz überrascht angeguckt.
Aber dann hat er mich hochgehoben und wir sind losgdüst. Ich durfte auch mal an
den Hebel. Das war cool. Unterwegs habe ich Herrn Schulz dann gefragt, warum er
nicht laufen kann. Er hat es mir einfach erzählt und dabei nicht geweint. Oma
hatte also nicht recht gehabt.
Vor einer Weile hat Oma mal besorgt den Kopf geschüttelt und
gesagt: „Das mit Fabio und der Playstation wird noch ein schlimmes Ende
nehmen.“
„Warum?“, habe ich gefragt.
Ich bin manchmal den ganzen Nachmittag bei ihm. Erst spielen
wir im Garten und dann Angry Birds. Mit der Playstation. Fabios Mama lässt uns
eine Stunde Angry Birds spielen, wenn wir vorher zwei Stunden im Garten waren.
Hinterher gilt nicht.
„Wegen der Killerspiele“, hat Oma gesagt.
„Killerspiele?“, habe ich gefragt.
Oma hat mit dem Kopf genickt. So wie sie es macht, wenn sie
weiß, dass sie es weiß. „Denk an W., wo meine Freundin wohnt“, hat sie gesagt.
Ich habe nicht gewusst, was sie meinte. Dass es irgendwas
mit diesem Amok zu tun haben musste, war aber klar.
Ich war etwas besorgt. Konnte ich einfach so nach Hause
gehen? Was war mit unserer Nachbarin und ihrem Amok? War das gefährlich? Ob sie
auch eine Playstation hat?
Das Brausbonbon krachte in meinem Mund. An der scharfen
Kante schlitzte ich mir ein bisschen die Zunge ein. Das passiert mir immer. Als
das Brausepulver in den Schlitz kam, brannte es.
Vielleicht hat Frau Schmidt ja ihr Haus in Brand gesteckt?
Oder den Apfelbaum im Garten. Vielleicht brannte der noch. Dann könnte ich
schnell hinlaufen und den Elternbrief in die Flammen werfen. Dann wäre der
schon mal weg und Frau Bangemann könnte nicht kontrollieren, ob Oma ihn
unterschrieben hat. Eigentlich müsste er ja für uns Omabrief heißen. Fabio hat
keinen Papa. Da müsste der Brief Mamabrief heißen. Aber immer heißt er nur Elternbrief.
Als ich in unsere Straße kam, waren alle Brausebonbonkrümel weggelutscht
und das Haus von Frau Schmidt brannte nicht. Im Garten lag ein großer Haufen
Sachen: der Fernseher, die Schuhe und Hemden von Herrn Schmidt, eine
Modelleisenbahn und eine Bettdecke. Eine Playstation war nicht dabei.
Vor dem Gartenzaun standen ein paar Frauen und steckten die
Köpfe zusammen. Oma mittendrin. Bestimmt erzählte sie den anderen, was sie
wusste. Letzte Woche hatte Frau Schmidt nämlich an unsere Tür geklingelt. Oma
hatte Kaffee gekocht und dann ganz lange mit ihr im Wohnzimmer geredet. Die Tür
hatten sie zugemacht. Ich glaube, Frau Schmidt hatte geweint.
„Lisa, ab ins Haus“, sagte Oma, als sie mich entdeckte. Sie zeigte
auf unsere Haustür.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich trotzdem. Aber Oma
schüttelte den Kopf. Keine Chance.
Ich stellte meinen Schulranzen in die Ecke. Dann lief ich
wieder nach draußen.
„Ich gehe zu Fabio“, rief ich Oma zu. „Die Bäckersfrau hat
mir ein Brausebonbon geschenkt. Das bringe ich ihm.“
Außerdem musste ich ihn endlich mal fragen, ob er wußte, was
eigentlich Killerspiele waren.
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