Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 8. Mai 2014

Schnarchen – Kai Lüftner

„Jetz reicht´s mir ABBA!“, blubberte Mongo und sah uns mit einem Blick an, der sensiblere Kleinstlebewesen definitiv in Schockstarre versetzt oder gar zum spontanen Herzstillstand motiviert hätte.
Mongo war nicht nur über zwei Meter groß, sondern hatte von Mutter Natur neben seinem aufbrausenden Wesen auch eine Physis mitbekommen, die ihm vor drei Generationen noch zu einer vielversprechenden Kariere als Rummelboxer oder Karusselbremser verholfen hätte.
Mongo war einfach nur ein Tier in riesiger, trotzdem schlecht passender Homo-Sapiens Uniform und es fühlte sich gut an, dass er - theoretisch zumindest - in unserem Team spielte.

Das ein oder andere Mal hatten E, A und ich zusammengesessen und darüber fabuliert, ob Mongo sich vielleicht nur für uns entschieden hatte, weil es auf der anderen Seite einfach mehr potentielle Gegner gab, die es auch wirklich verdient hatten, dass man ihnen eine fußballgroße Faust mit dem Wumms eines ungebremsten Fahrstuhls auf die nassrasierten Hohlbirnen donnerte.

Wie auch immer, Mongo hatte schlechte Laune, war auf irgendwas drauf, frisch getrennt, noch - oder schon wieder - besoffen und bekifft, hatte seinen Schlüssel verloren und ihm eiterte offenbar das Stück einer Baseball-Keule nur ziemlich langsam und schmerzhaft aus der rechten Augenbraue.
Wie es dem Typen ging, der Mongo die Baseballkeulen-Wunde beigebracht hatte, wurde leider nicht überliefert. Ich hatte ihn mal gefragt, als er mit dem frischen Cut im Haus aufgetaucht war. Seine Antwort war ein Grinsen, das mir irgendwie Übelkeit verursachte und gleichzeitig das Gefühl gab, Mitwisser bei einem ungeklärten Mordfall zu sein.

„Das Haus“ war ein Abrisshaus im Osten Berlins, an einer Stelle und zu einer Zeit, als es davon noch unzählige gab. Baufällige Rückzugsräume, frei von den Regeln der Außenwelt, aufgerüstet und verteidigungsbereit und oft genug Brutstätten und Keimzellen revolutionärer Ideen - die Baumhäuser und Räuberhöhlen der subkulturellen Großstadtkinder zur Wendezeit.

Mongo wankte und sein Blick wurde trüb. Als würde ein Vorhang vor sein Bewusstsein gezogen, der ihn in einem Zimmer einsperrte, zu dem niemand Zugang hatte außer er selber.
Die Reaktionen in der Küche waren unterschiedlich. Einige atmeten leise auf, andere nutzten die Gunst, um schleunigst aus seiner Reichweite zu entschwinden. Ich kam leider nicht an ihm vorbei, blieb also sitzen, wo ich war, und versuchte, mich mit der Kraft meines Willens unsichtbar zu machen.
Als ich dachte, gleich könnte es soweit sein, klackte der Knopf des Wasserkochers und Mongo kam mit einem Schütteln und Schnauben wieder zu sich.

Dann sagte er nochmal: „Jetz reicht´s mir ABBA!“ - und jedem war klar, dass er nicht die schwedische Band meinte. Wie ein angeschossener Büffel torkelte Mongo zum Wasserkocher, riss ihn mit Stecker aus der Wand und goss das kochende Wasser aus dem Fenster. Parallel zum Schrei, der von unten erscholl, kippte er sich die nicht zubereitete Fünf-Minuten-Terrine „Kartoffelbrei-Brokkoli“ in den Mund und kaute sie wie man Sand kaut.
Es war befremdlich, beängstigend, surreal!
Dann nahm er einen Stuhl - zum Glück nicht den, auf dem ich saß - und feuerte ihn ebenfalls aus dem Fenster. Die Schreie unten wurden lauter und wütender. Parallel zu seinen eigenen.

Ich konnte bis zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, was genau Mongo reichte. Meine ganze Energie wurde weiterhin darauf verwendet, unsichtbar zu werden. Es muss mir gelungen sein, denn bald war nur noch der Stuhl mit mir darauf und ein Einbauschrank vorhanden, der durch seine Massiv-Verschraubung offenbar selbst für Mongo nicht so ohne weiteres zu meistern war.
Der Rest landete im Hof und man konnte schon von Weitem die ersten Sirenen heulen hören - worüber ich ehrlich gesagt einigermaßen froh war.

Mongo war nicht zu bremsen. Alles, was er greifen konnte, flog aus dem Fenster und zwischendurch wischte er durch die Luft, als würde er Fenster putzen oder Spinnweben wegwischen. Hilfe!
Ich kam mir vor wie bei einem Phantomboxen, bei dem der Gegner nicht klar und Mongo selbst eigentlich längst k.o. geschlagen war. Er wusste es nur noch nicht bzw. weigerte sich, es einzusehen.

Vor der Küchentür tauchte Toto, eine meiner damaligen besten Freundinnen, auf und durch mein eines halb geöffnetes Auge konnte ich sehen, dass sie ein leeres Glas in der Hand hielt und fassungslos darauf zeigte. Soweit ich in der Lage war zu erkennen, handelte es sich um das Glas mit ihren Stechapfel-Vorräten für die nächsten Jahre.
Ich habe mir nie wieder so gewünscht mich zu täuschen. Und ich hatte mich noch nie so getäuscht.

Es war seltsam, einfach so dazusitzen, mittendrin, und doch nicht dazu zu gehören oder direkt betroffen zu sein. Ich fühlte mich so schuldig wie das einzige Haus in der Straße, dass nach einem Orkan stehen geblieben war.

Und dann, plötzlich - Ruhe.

Als draußen die Sirenen heulten und in erstaunlich rhythmischen Intervallen der Rammbock gegen die gepanzerte Haustür knallte, gab es nur ein Geräusch, dass gegen die Sound-Kulisse ankam. Ein Geräusch, das in diesem Rahmen so anachronistisch wirkte wie Schlagsahne auf einem T-Bone-Steak: Das Schnarchen von Mongo, der mit seinem riesigen Schädel vollkommen reglos auf dem Küchenfußboden lag, als würde nicht gerade drei Stockwerke weiter unten eine Hundertschaft unser kleines verbarrikadiertes Baumhaus stürmen.

Toto nickte anerkennend zu dem sedierten Mongo und zeigte - süß wie immer - den Daumen, als hätten wir eine entscheidende Schlacht gewonnen. E und A im Hintergrund waren gerade erschreckend routiniert dabei, zwei Falltüren im Treppenhaus zu präparieren.
E grinste sogar hinter seiner Ski-Maske, ich hab es genau gesehen.

Ach ja, verrückte Zeit …

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