Helene war sauer. Ein Menschenfresser hätte mindestens fünf
Tage belustigt vor sich hingegrinst, wenn er nur einen ihrer kleinen Zehen zu
knabbern bekommen hätte. Immerhin macht sauer ja lustig. Worum der Streit mit Mama eigentlich gegangen war,
wusste sie nicht mehr. Das war sowieso egal. Nicht das Warum war schlimm gewesen,
sondern das Wie. Irgendwann war Helene einfach abgehauen. Hatte die Tür hinter
sich zugeknallt und war die Treppe hinuntergestürmt.
„Helene, hier geblieben! Draußen ist es schon dunkel!“ Sie
hatte Mamas schrille Stimme einfach hinter der Wohnungstür zurückgelassen.
Vielleicht sollte sie für immer weggehen.
Auf dem Platz vor der Kirche standen einige Bäume und Bänke.
Da konnte man tagsüber in der Sonne sitzen. Wenn noch eine Bank frei war. Jetzt
schien nicht einmal der Mond. Dafür waren die Bänke leer. Aber ausgerechnet auf
ihrer Lieblingsbank saß jemand. Helene schnüffelte die Tränen hoch.
„Eine schöne Nacht“, wünschte sie. Sie hoffte, dass das so
richtig war. Normalerweise grüsste sie niemanden in der Nacht. Als sie sah,
dass dieser Jemand eine winzige alte Frau war, setzte sich Helene einfach dazu.
„Darf ich?“, fragte sie.
„Wenn du dich traust“, kicherte die winzige alte Frau.
„Ich traue mich alles“, sagte Helene. Zum Beispiel hier sitzen, obwohl sie sehen konnte, dass einige Ratten herum huschten.
„Soso“, wisperte die kleine Frau. Es klang seltsam, dieses
Wispern. Beinahe wie ein leichter Wind.
Die Alte nahm etwas aus ihrer Manteltasche. Helene lunzte
zur Seite. Es war eine kleine dunkle Flasche. Daraus goß sie einen schwarzen
Saft in ein Weinglas. Das Glas wurde nur halbvoll, dann war die Flasche leer.
„Oh“, machte die alte Frau enttäuscht. Dann schlürfte sie einen Schluck.
„Möchtest du auch ein Schlückchen?“, fragte sie und hielt
Helene das Glas hin.
„Nein, danke“, sagte Helene schnell. Der Saft roch komisch.
Wie ihre Hände, wenn sie auf dem alten Klettergerüst am vergessenen Spielplatz turnte.
„Was machst du denn hier so ganz alleine und mitten in der
Nacht?“, fragte die winzige Frau, als das Gläschen getrunken war und sich der
Mond etwas an den Wolken vorbeigeschoben hatte.
„Und Sie?“ Helene wollte es nicht erzählen.
„Ich schaue mir die Kirche an“, sagte die Alte.
„Von dieser Bank sieht man sie nicht gut“, sagte Helene. „Und
auch nicht so gut im Dunkeln.“
„Näher herantreten kann ich nicht und ich bin auch kein
Freund der Sonne“, nuschelte die Alte. Der Saft war vielleicht doch Wein
gewesen, dachte Helene und fragte nicht weiter. Die Frau hatte eben auch nicht
weiter gefragt.
Helene sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Es hatte
ausgesehen, als hätte die Frau blitzschnell etwas vom Boden gegriffen. Aber das
war natürlich Unsinn. Helene sah einen Gehstock neben der Bank lehnen. Die Alte
war wirklich uralt und blitzschnell ging da gar nichts mehr. Erst recht nicht
drei, vier Mal hintereinander. Ich bin müde, dachte Helne. Darum. Irgendetwas
knackte. Viermal. Aber das waren bestimmt Helenes Kieferknochen beim Gähnen.
„Hast du denn keine Angst hier draußen in der Nacht so ganz
alleine?“ Helene hörte noch ein anderes Geräusch, hinter der Stimme der Alten,
die raschelte wie trockenes Laub. Ein leises Plätschern. Vielleicht macht sie
gerade Pipi, dachte Helene. Alte Leute können das manchmal nicht mehr
einhalten. Sie rutschte ein Stückchen zur Seite. Nicht dass das Omapipi bis zu
ihr lief und ihre Schlafanzughose tränkte.
„Nein“, sagte Helene. „Ich habe keine Angst vor nichts und vor
niemandem.“ Sie wusste aber, dass das mit dem Nichts gelogen war.
„So so“, kicherte die Alte wieder und nahm ein Schlückchen.
„Sie sitzen doch auch hier draußen in der Nacht und das ganz
alleine“, sagte Helene. Sie sah, dass das Weinglas der Alten wieder voll war.
Dabei war doch die Flasche leer gewesen. Seltsam. Helene wurde ein bisschen
übel. Dieser Wein roch wirklich ganz furchtbar. Außerdem schien er warm zu
sein.
„Ja, das stimmt“, seufzte die winzige Alte und klang wie ein
ganzer Haufen verwelkter Blätter.
„Haben Sie denn keine Familie?“, fragte Helene und spürte
ein merkwürdiges Ziehen in der Brust.
„Doch“, murmelte die Alte. „Und wir sind sehr viele.
Allerdings über die ganze Welt verstreut. Wir sehen uns nicht so oft.“ Die
winzige Frau seufzte traurig und nahm ein Schlückchen aus dem Glas.
Helene schluckte trocken. „Wir sind nur zwei“, erzählte sie.
„Mama und ich.“ Und mit Mama habe ich Streit, dachte sie verzweifelt.
„Helene?“, rief es durch die Nacht. Dann stand Mama an der
Bank. „Ich wusste, dass du hier sein würdest“, sagte sie und zu der alten Frau:
„Guten Abend.“ Ach, so ist das, dachte Helene, obwohl es ja eigentlich tief in
der Nacht war. Mama setzte sich mit auf die Bank. Langsam, ganz langsam fanden
sich ihre Hände und alles war wieder gut. Die winzige Frau kicherte und
schlürfte von ihrem schweren Wein.
„Ich bin müde.“
Mama und sie standen auf. „Auf Wiedersehen!“, sagte Helene.
„Und laden Sie doch mal Ihre Familie zu sich ein.“
„Na, lieber nicht“, murmelte die alte Frau.
„Die war ja gruselig“, flüsterte Mama nach zehn Schritten
und schüttelte sich. „Wie eine uralte Vampirin.“
Helene lachte. „Also echt, Mama. Du liest zu viele schlechte
Bücher.“
Sie drehte sich noch einmal um. Die kleine alte Frau war
nicht mehr da. Sie war auch nirgends sonst zu entdecken. Wie kann das sein?, fragte
sich Helene und dachte an den Gehstock.
Den kleinen Haufen neben der Bank beachtete sie nicht.
Vielleicht konnte sie in den Schatten der Nacht die blutigen pelzigen Leiber
mit den abgebissenen Köpfen auch gar nicht sehen.
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