Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 2. Oktober 2014

Marlon Brando – Rüdiger Bertram


„Ich such so eine krasse DVD. Eine mit Merlin Brandhoff. Heißt Der Onkel oder so. Wo find ich die?“
Der Junge, der gefragt hatte und sich weit, fast ein wenig zu weit, über die Ausleihtheke zu Frau Müller-Liebelein hinüberbeugte, war etwa 16 Jahre. Vielleicht doch eher 17, korrigierte sich Herr Rafka, der neben seiner Chefin saß und damit beschäftigt war, Kaffeeflecken von laminierten Buchdeckeln zu entfernen. Der Junge vor ihm trug ein weißes T-Shirt unter seiner schwarzen Lederjacke. Sein Gesicht war hübsch, auch wenn ihm die gebrochene Nase etwas Bedrohliches gab, das Herrn Rafka instinktiv mit seinem Bürostuhl ein Stück nach hinter rollen ließ. Doch selbst aus dieser Perspektive konnte er den neckischen Ausdruck in den Augen seiner Chefin erkennen. Der Junge hatte Pech, Frau Müller-Liebelein an einem ihrer verschmitzten Tage zu begegnen. 
Schon am Morgen hatte die Bibliothekarin augenzwinkernd eine Darwin-Biografie zwischen die christliche Erbauungsliteratur geschmuggelt und eine CD mit Drei-Minuten-Einschlafgeschichten durch die Hörbuchaufnahme eines der frühen Werke von Stephen King ersetzt. 
„Das sagt mir jetzt leider gar nichts. Haben Sie vielleicht sonst noch irgendwelche Informationen, die uns die Suche erleichtern“, erkundigte sich Frau Müller-Liebelein und schenkte dem Jungen ein Lächeln.
„Dieser Merlin Brandhoff soll schon ein bisschen fett gewesen sein, aber nicht so krass fett wie später. Das hat mein Cousin, der Alex, gesagt. In dem Film geht es um die Mafia und den soll ich mal gucken so als Fortbildung, hat der Alex gesagt.“
Frau Müller-Liebelein warf Herrn Rafka einen wissenden Blick zu, auch wenn ihr Kollege immer noch keinen Schimmer hatte, was der Junge von ihnen wollte.
„Der Film, den Alex meint, heißt Der Pate, nicht Der Onkel, und der Schauspieler ist nicht Merlin Brandhoff, sondern Marlon Brando“, wandte sich die Bibliothekarin wieder ihrem Kunden zu. „Allerdings war der damals bei den Dreharbeiten tatsächlich schon etwas mollig um die Hüften. Da hat dein Cousin schon recht.“
„Ist doch voll egal, wie der heißt. Haben Sie den da?“
„Ja, aber ich befürchte Alex hat da was verwechselt“, erklärte Frau Müller-Liebelein und lächelte nachsichtig. „Der Film mit Marlon Brando, den dein Cousin wahrscheinlich wirklich meint, heißt Der letzte Tango von Paris.“
„Paris? Alex sagt, der Film spielt in Amerika.“
„Aber Paris liegt doch in Amerika.“
„Echt jetzt?“
„Echt“, antwortete Frau Müller-Liebelein ohne aufzusehen, weil sie gleichzeitig den Titel des Films in ihren Computer eingab.
Herr Rafka hatte Mühe ein Kichern zu unterdrücken. Das gelang ihm nur, indem er sich ablenkte. Er überlegte, warum der Junge sich den Film nicht einfach im Internet besorgte, statt sich die Mühe zu machen, hier zu ihnen in die Bücherei zu kommen. Herr Rafka vermutete, dass es ihm für einen illegalen Download an den nötigen Ortskenntnissen im Netz und für einen legalen an der nötigen Kreditkarte fehlte.
„Krass, bei Ihnen lernt man echt voll viel“, sagte der Junge und strahlte glücklich. „Gibt es in dem Film auch ein bisschen Action und Tote und so?“
„Klar, der heißt ja nicht umsonst Der letzte Tango in Paris.“ Frau Müller-Liebelein hatte das Wort letzte ausdrücklich betont und dem Jungen dabei verschwörerisch zu gezwinkert.
„So wie bei Mord in der Disko? Krass!“ Dem Jungen schien der Film immer besser zu gefallen.
„So ähnlich. Nur eben nicht Disko, sondern Tango“, erwiderte die Bibliothekarin freundlich. „Ist aber im Grunde dasselbe.“
Herr Rafka bedauerte, dass er an seinem Arbeitspatz nichts essen durfte. Eine Tüte Popcorn und ein Becher Cola wären jetzt einfach perfekt gewesen.
„Aber geht es da auch um Italiener? Alex sagt, diese krassen Mafiosi kommen alle aus Italien.“
Frau Müller-Liebelein drehte den Monitor, so dass der Junge auf den Bildschirm schauen konnte.
„Sehen Sie?! Der Regisseur des Films heißt Bernardo Bertolucci. Italienischer geht’s doch gar nicht, oder?!“
„Bertolucci? Ist das nicht dieser krasse Bunga Bunga Typ? Der mit den ganzen jungen Mädels?“ Die Augen des Jungen leuchteten.
„Der Regisseur ist sein Patenonkel“, flüsterte Frau Müller-Liebelein als würde sie ein streng gehütetes Geheimnis verraten. Dann senkte sie noch einmal die Stimme. „In dem Film geht es übrigens auch um Sex.“
„Echt?“ Die Augen des Jungen leuchteten noch mehr.
Herr Rafka war sich sicher, dass der Sex in Der letzte Tango in Paris nur wenig mit dem zu tun hatte, was sich der Junge unter Sex vorstellte. Herr Rafka grinste, als er sich dessen Gesicht vorstellte, wenn der alte Brando seine junge Geliebte aufforderte, ihren Fingern in seinen …
„Ich habe ihn gleich hier“, unterbrach Frau Müller-Liebelein den Gedanken ihres Kollegen. „Das ist mein absoluter Lieblingsfilm. Den verleihe ich nur an ganz besondere Menschen.“
Die Bibliothekarin griff in eine Schublade unter der Theke und holte die DVD hervor. Herr Rafka wusste, dass sie dort ein geheimes Lager hatte, in dem sie alles sammelte, was sie nur ungern herausgab. 
„Den gucke ich gleich heute Abend mit meinen Kumpels“, erzählte der Junge begeistert. „Und denen sage ich dann auch, wie krass einem hier geholfen wird. Ohne Sie, hätte ich glatt den falschen Film ausgeliehen. Sie sind echt voll nett, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“
„Viel zu selten“, erwiderte Frau Müller-Liebelein und schaute vorwurfsvoll zu ihrem Kollegen hinüber. „Ich wünsche euch viel Spaß!“
„Danke, den werden wir haben“, sagte der Junge und verließ zufrieden die Bücherei.
Frau Müller-Liebelein sah auf die Uhr.
„Zeit für eine Kaffeepause“, erklärte sie. „Ich habe einen Apple Pie gebacken. Mögen Sie ein Stück?“
„Gerne“, antwortete Herr Rafka vorsichtig. Er hatte Angst, dass auch das nur ein Scherz seiner Chefin sein könnte.
„Wussten Sie übrigens, dass Apple Pie das Lieblingsgericht von Marlon Brando war? Deswegen ist er später auch so furchtbar fett geworden.“
„Jetzt wirklich, oder ist das wieder nur …“
„Das stimmt wirklich. Und deswegen kriegen Sie auch nur ein Stück, Herr Rafka.“

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