Sartre war genau zwei Meter groß und
wog drei Zentner.
Außerdem war er schwul und ein Grufti.
Er machte die Tür im Knaak-Club. Diese Formulierung
mag den Nicht-Club-Besucher ein wenig irritieren. Es bedeutet letzten Endes
nichts anderes als sie zu bewachen. Die Tür.
Im besten Fall vor den Bösen, die zu diesen Zeiten meistens
Bomberjacke trugen und Glatzen hatten und sich aus oftmals nicht ganz
unkomplizierten Gründen Zugang verschaffen wollten.
Sartre war ein sanfter Bär und Philosoph und konnte doch zum wüstesten
Kneipenboxer werden, wenn jemand Nicht-legitimiertes vorbei wollte.
Selbst im unabwendbaren Falle eines Falles fand er im Nachgang
noch eine philosophische Komponente in allem. Sätze wie: „Mein Freund, wir könnten es irgendwann noch einmal neu versuchen! Nun geh!“ oder „Du hast deinen Hochmut wie ein stumpfes Schwert getragen, das du nicht zu bedienen wusstest!“ wirkten in eben diesem Umfeld mindestens seltsam. Vor allem, wenn der Angesprochene in seiner eigenen Suppe lag und aufgrund seines Zustandes eigentlich gar nicht wirklich ansprechbar war.
Ich traf Sartre das erste Mal auf der weltbekannten Wave- und
Gothiksause in Leipzig. Hunderttausende pilgern mittlerweile jedes Jahr dorthin
und verwandeln die Stadt in einen wahren Hexenkessel aus allen nur erdenklichen
Szenen zwischen Steampunk und Sado-Maso.
Damals, Anfang der 90er, huschten ein paar verschreckte und blässliche
Grufits die verfallenen Hauswände entlang, um den omnipräsenten
Skinheads und Hools von Chemie oder Lokomotive Leipzig nicht in die brutalen
Pfoten zu geraten. Nichts vom Selbstbewusstsein der letzten Jahre, ein paar
Konzerte in schäbigen Hinterhöfen und abends eine
Flasche Rotwein auf dem städtischen Friedhof.
Sartre las mich mit drei Promille, zwei blauen Augen und einer
Orientierungslosigkeit, die sich nicht gewaschen hatte, am Leipziger Hauptbahnhof
auf. Dort versuchte ich irgendwie Richtung Heimat zu kommen. Frisch von meiner
damaligen Leipziger Freundin getrennt und dadurch um den sicher geglaubten
Schlafplatz gebracht.
In meiner Erinnerung hob er mich von irgendeinem Bahnsteig auf,
lud mich auf seine Schulter und kaufte mir am Imbiss eine Bocki zur Stärkung. Als ich wieder selber stehen konnte, fragte er mich, was ich für meinen durchtrainierten Body tat. „Matratzensport vielleicht?“ - Es war weniger anrüchig, als ich es für möglich gehalten hatte. Aber auch hier kann mich meine Erinnerung einfach nur pampern.
Er hielt mit seiner Homosexualität nicht hinterm
Berg, aber es schien mir eindeutig, dass ich eher so was wie ein kleiner
Bruder, als potentielle Beute war.
Er erzählte von einer Studenten-WG und ich
folgte ihm torkelnd. Es war faszinierend, wie er vollkommen angstfrei und
selbstverständlich die Straße langmarschierte, keine öffentlichen
Plätze mied und niemandes Blick auswich. Nicht provozierend,
sondern eher väterlich wissend lächelte.
Seltsames Gefühl, diese Sicherheit.
In der Studenten-WG feierten wir bis in den frühen
morgen. Gegen 5 Uhr begann er auf dem Balkon wahllos Baudelaire, Kafka, The
Cure und Micky Mouse zu zitieren - und alles in Beziehung zu einander zu
setzen. Schließlich klatschte er mitten im Satz auf den Boden und war
nahtlos eingeschlafen.
Ich saß bis zum Mittag neben ihm und passte
auf, dass er nicht an seiner eigenen Kotze erstickte. Irgendwie war ich ihm das
schuldig. Als er zu sich kam, drückte er mir 20 Mark in die Hand, damit
ich nach Berlin zurück fahren konnte. Mit einem Handschlag
und einem tiefen Blick verabschiedeten wir uns.
Unsere späteren Wiedersehen waren herzlich und
freundschaftlich. Als gäbe es da eine alte und tiefe
Verbundenheit. Irgendwie hatten wir uns jeweils ein bisschen das Leben
gerettet. Der kleene Punk und der große Grufti.
Ich glaube heute, dass Sartre und ich eine Art platonische
Beziehung hatten. Für die ich einfach nicht reif und nicht
schwul genug war.
Tatsächlich hat er sich vor ein paar Jahren
aus mir unbekannten Gründen das Leben in einer
psychiatrischen Anstalt genommen.
Manchmal vermisse ich ihn.
Besonders wenn Robert Smith „Boys don´t
cry!“ singt.
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