Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 25. September 2014

Sartre – Kai Lüftner


Sartre war genau zwei Meter groß und wog drei Zentner.
Außerdem war er schwul und ein Grufti.
Er machte die Tür im Knaak-Club. Diese Formulierung mag den Nicht-Club-Besucher ein wenig irritieren. Es bedeutet letzten Endes nichts anderes als sie zu bewachen. Die Tür.
Im besten Fall vor den Bösen, die zu diesen Zeiten meistens Bomberjacke trugen und Glatzen hatten und sich aus oftmals nicht ganz unkomplizierten Gründen Zugang verschaffen wollten.

Sartre war ein sanfter Bär und Philosoph und konnte doch zum wüstesten Kneipenboxer werden, wenn jemand Nicht-legitimiertes vorbei wollte.
Selbst im unabwendbaren Falle eines Falles fand er im Nachgang noch eine philosophische Komponente in allem. Sätze wie: „Mein Freund, wir könnten es irgendwann noch einmal neu versuchen! Nun geh!“ oder „Du hast deinen Hochmut wie ein stumpfes Schwert getragen, das du nicht zu bedienen wusstest!“ wirkten in eben diesem Umfeld mindestens seltsam. Vor allem, wenn der Angesprochene in seiner eigenen Suppe lag und aufgrund seines Zustandes eigentlich gar nicht wirklich ansprechbar war.

Ich traf Sartre das erste Mal auf der weltbekannten Wave- und Gothiksause in Leipzig. Hunderttausende pilgern mittlerweile jedes Jahr dorthin und verwandeln die Stadt in einen wahren Hexenkessel aus allen nur erdenklichen Szenen zwischen Steampunk und Sado-Maso.

Damals, Anfang der 90er, huschten ein paar verschreckte und blässliche Grufits die verfallenen Hauswände entlang, um den omnipräsenten Skinheads und Hools von Chemie oder Lokomotive Leipzig nicht in die brutalen Pfoten zu geraten. Nichts vom Selbstbewusstsein der letzten Jahre, ein paar Konzerte in schäbigen Hinterhöfen und abends eine Flasche Rotwein auf dem städtischen Friedhof.

Sartre las mich mit drei Promille, zwei blauen Augen und einer Orientierungslosigkeit, die sich nicht gewaschen hatte, am Leipziger Hauptbahnhof auf. Dort versuchte ich irgendwie Richtung Heimat zu kommen. Frisch von meiner damaligen Leipziger Freundin getrennt und dadurch um den sicher geglaubten Schlafplatz gebracht.

In meiner Erinnerung hob er mich von irgendeinem Bahnsteig auf, lud mich auf seine Schulter und kaufte mir am Imbiss eine Bocki zur Stärkung. Als ich wieder selber stehen konnte, fragte er mich, was ich für meinen durchtrainierten Body tat. „Matratzensport vielleicht?“ - Es war weniger anrüchig, als ich es für möglich gehalten hatte. Aber auch hier kann mich meine Erinnerung einfach nur pampern.

Er hielt mit seiner Homosexualität nicht hinterm Berg, aber es schien mir eindeutig, dass ich eher so was wie ein kleiner Bruder, als potentielle Beute war.
Er erzählte von einer Studenten-WG und ich folgte ihm torkelnd. Es war faszinierend, wie er vollkommen angstfrei und selbstverständlich die Straße langmarschierte, keine öffentlichen Plätze mied und niemandes Blick auswich. Nicht provozierend, sondern eher väterlich wissend lächelte.
Seltsames Gefühl, diese Sicherheit.

In der Studenten-WG feierten wir bis in den frühen morgen. Gegen 5 Uhr begann er auf dem Balkon wahllos Baudelaire, Kafka, The Cure und Micky Mouse zu zitieren - und alles in Beziehung zu einander zu setzen. Schließlich klatschte er mitten im Satz auf den Boden und war nahtlos eingeschlafen.

Ich saß bis zum Mittag neben ihm und passte auf, dass er nicht an seiner eigenen Kotze erstickte. Irgendwie war ich ihm das schuldig. Als er zu sich kam, drückte er mir 20 Mark in die Hand, damit ich nach Berlin zurück fahren konnte. Mit einem Handschlag und einem tiefen Blick verabschiedeten wir uns.

Unsere späteren Wiedersehen waren herzlich und freundschaftlich. Als gäbe es da eine alte und tiefe Verbundenheit. Irgendwie hatten wir uns jeweils ein bisschen das Leben gerettet. Der kleene Punk und der große Grufti.

Ich glaube heute, dass Sartre und ich eine Art platonische Beziehung hatten. Für die ich einfach nicht reif und nicht schwul genug war.
Tatsächlich hat er sich vor ein paar Jahren aus mir unbekannten Gründen das Leben in einer psychiatrischen Anstalt genommen.
Manchmal vermisse ich ihn.
Besonders wenn Robert Smith Boys don´t cry! singt. 

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