Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Rüdiger Bertram – Antje Herden – Kai Lüftner

Donnerstag, 6. November 2014

Chaplin – Kai Lüftner


Früher konnte ich Adolf Hitler und Charlie Chaplin nicht auseinanderhalten.
Als ich noch n kleines Mädchen war, damals in der ehemaligen DDR.
Ich bin kein schlechter Mensch deswegen, mittlerweile kann ich es, obwohl der eine den anderen sogar mal gespielt hat, um die Verwirrung komplett zu machen. Egal.
Ich erinnere mich jedenfalls an einen Schwarzweißfilm, in dem Charlie Chaplin diese wohl offenbar recht berühmte Fließband-Szene hat. Wo er so durch die Apparaturen gesaugt wird und so.
Ich weiß noch, wie ich dachte: Na sag mal, wie kann der denn Witze machen – dieser Kack-Nazi!
Und dann noch im Fernsehen?
Haben die Russen da nix gegen? Ich meine, unsere Waffenbrüder?
Mir gingen so Kinder-Dinge durch den Kopf wie: Wenn die den Kack-Nazi zeigen wie er Blödsinn macht, wieso darf ich dann nicht Colt Sievers und Mac Gyver gucken? Oder wenigstens Hallo Spencer? Wer entscheidet denn so was?

Meine Mutter konnte ich nicht fragen, die wusste nichts von Colt Sievers und Mac Gyver. Die kannte nicht mal Sesamstraße, obwohl die natürlich schon voll uncool war zu dem Zeitpunkt.

Erst nach und nach hab ich verstanden, dass es zwei Typen mit so nem Stempelkissen-Bärtchen gab. Aber ich konnte sie einfach immer noch nicht auseinander halten.
Also hab ich Heiko Meister gefragt. Das war der Freak in unserer Klasse. Wenn der was Blödes antwortete, konnte man ihm einfach eine ballern und die Lehrer hatten sogar eine Art Verständnis dafür entwickelt.
Ich fragte Heiko: Sag mal einen Berühmten, den du kennst.
Er sagte: Titanic.
Ich sagte: Ick meine n Typen. N Berühmten, den man kennt.
Heiko sagte: Edward John Smith.
Ich fragte: Wer is n ditt?
Heiko sagte: Der Kapitän vonna Titanic.

Boah, da war es mir schon wieder voll anstrengend mit dem. Also fragte ich deutlicher:
Wie unterscheidest du denn zum Beispiel Adolf Hitler und Charlie Chaplin?
Heiko schaute mich ziemlich verdächtig an, aber er sagte nix, weil er keine von mir geballert haben wollte. Also sagte ich: Brauchst keene Angst haben, ick baller dir keene!
Er nickte, guckte aber immer noch gleich. Also hakte ick nach: Na?
Heiko fragte: Wer is n Charlie Chaplin?
Ich sagte: Ähm, na der mit dem kleinen schwarzen Bart.
Heiko fragte: Hitler?
Ich: Nee, eben der andere, der mit der Melone!
Heiko: Der Mörder?
Ich: Nee, der Schauspieler, der hat immer so n Spazierstock dabei und looft so komisch.
Heiko: Hm
Ich: Watt hm???
Heiko: Naja, eigentlich weeßt du es doch!
Ich: Watt?
Heiko: Na, wie man die auseinanderhält.

Kurz entstand eine Pause und Heiko glotzte wieder so, wie er immer glotzte, wenn er eine geballert bekommen hatte, oder es erwartete. Ich schaute mich um, ob irgendein anderer aus der Klasse unser Gespräch mitbekommen hatte. Als es nicht danach aussah, flüsterte ich ihm zu: Das bleibt unter uns, verstanden?
Er nickte und lächelte.

Seitdem wusste ich nicht nur, wie man Hitler und Charlie Chaplin unterscheidet, sondern auch, dass der Freak aus unserer Klasse irgendwie vielleicht doch gar nicht so ein Freak war. Oder eben grade doch.
Krass kompliziert.

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