Das Schild hing schon seit Ewigkeiten im Fenster der kleinen Laube von Frau Müller-Liebelein. Gemeldet hatte sich nie jemand. Aber das hatte die Bibliothekarin in all den Jahren auch gar nicht erwartet. Der Sütterlin Schriftzug „Mittag für Arbeit“ stammte noch von ihrer Mutter und die war 1998 gestorben. Oder war es 1989 gewesen? Frau Müller-Liebelein stützte sich auf den Spaten, mit dem sie ein Beet umgraben wollte, und dachte nach, konnte sich aber am beim besten Willen nicht erinnern. Das Verhältnis zwischen beiden war nie besonders gut gewesen und ob nun 98 oder 89 war am Ende auch egal. Tot bleibt tot, da helfen keine Pillen, hatte ihre Mutter immer gesagt und damit am Ende ja auch Recht behalten.
„Entschuldigung“, riss eine Stimme Frau Müller-Liebelein aus ihren Gedanken. „Gilt das Angebot noch?“
Frau Müller-Liebelein drehte sich um. Auf dem Kiesweg jenseits des Zauns stand ein Mann. Er trug einen Hut auf dem Kopf und einen Anzug, der wie sein Besitzer schon bessere Tage gesehen hatte.
„Was für ein Angebot?“, fragte Frau Müller-Liebelein zurück.
Statt ihr zu antworten, deutete der Mann auf das Schild im Fenster der Laube. Frau Müller-Liebelein überlegte einen Moment, den sie nutzte, um den Fremden etwas genauer zu mustern. Das Haar unter dem Hut wirkte etwas strubbelig und der Bart benötigte dringend eine Rasur. Aber da war eindeutig Potenzial, da war sich Frau Müller-Liebelein sicher.
„Sie können gleich anfangen“, sagte Frau Müller-Liebelein. „Zuerst muss das Beet hier umgegraben und dann das Altholz zur Sammelstelle gebracht werden. Und danach …“ Frau Müller-Liebelein sah sich suchend in ihrem Schrebergarten um, in dem sie von ihrer Arbeit in der Bücherei erholte. „Und dann hätten die Obstbäume dringend noch einen Schnitt nötig.“
„Kein Problem“, sagte der Mann und betrat den Garten. „Was gibt es denn zu Mittag?“
„Überraschung“, erwiderte Frau Müller-Liebelein und schob ihren Liegestuhl in eine Position, von der aus sie den Fremden im Blick behalten konnte. Er hatte seinen Hut, sein Jackett und auch sein Hemd ausgezogen und ordentlich über den Zaun gehängt. Frau Müller-Liebelein hätte ihm stundenlang bei der Arbeit zusehen können.
Und das tat sie dann auch.
„Wann gibt es denn Mittag?“, fragte der Mann. „Es ist schon fast vier!“
„Nicht so ungeduldig. Da vorne liegt noch totes Holz rum“, erwiderte die Bibliothekarin und ging in die Laube. In einer Tupperdose war noch eine Portion Coq-au-Vin, die sie sich auf dem Gaskocher hatte aufwärmen wollen.
„Ihr Essen ist fertig!“, rief Frau Müller-Liebelein fünf Minuten später in den Garten. Fünf Sekunden danach saß der Fremde mit nacktem Oberkörper an ihrem kleinen Küchentisch.
Frau Müller-Liebelein sah ihm schweigend dabei zu, wie er mit großem Appetit sein Essen verspeiste und danach mit einem Stück Brot die Soße aufwischte.
„Und? Hat es Ihnen geschmeckt?“ Frau Müller-Liebelein war stolz auf ihr Coq-au-Vin-Rezept, weil sie es nicht von ihrer Mutter hatte.
„Nicht schlecht“, antwortete der Mann. „Ich würde allerdings ein bisschen weniger Thymian verwenden. Die Kräuter waren etwas zu dominant. Und der Wein … das war ein Coté d’Aldi, Jahrgang 2005. Nicht wahr?“
Frau Müller-Liebelein nickte überrascht.
„Der 2001 Jahrgang eignet sich besser.“ Der Fremde zeigte auf das Bücherregal, dass sich an einer Wand der Laube unter der Last unzähliger Bände durchbog. „Haben Sie die alle gelesen?“
„Selbstverständlich! Ich bin Bibliothekarin“, erwiderte Frau Müller-Liebelein. „Ich nehme mir oft Arbeit mit nach Hause.“
„Si hortum in bibliotheca habes, deerit nihil“, zitierte der Fremde.
„Wie bitte?“
„Wenn du einen Garten und dazu noch eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen“, übersetzte der Mann. „Cicero. Ich selbst lese auch sehr gerne.“
„Wie heißen Sie überhaupt?“, fragte Frau Müller-Liebelein, die schon lange nach einem geeigneten Assistenten für ihre Bücherei suchte.
„Rafka. Wie Kafka nur mit R“, erwiderte der Fremde.
Der Mann hatte eindeutig Potenzial, aber das hatte Frau Müller-Liebelein ja sofort erkannt.
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